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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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eigene Wohnung, und mein Beruf machte mir Spaß. Erst als ich Geselle war, ich hatte gerade die Stelle gewechselt, gab es wieder Schwierigkeiten. Meine Mutter vertrug die Arbeit nicht mehr, die Feuchtigkeit den ganzen Tag in der Waschküche machte sie krank.«
    »Konntet ihr euch keinen Arzt leisten?«
    »Ein paar Mal schon, aber das bisschen Geld, das wir gespart hatten, war bald verbraucht. Zum Glück hatte Mr. Hickstead einen Cousin, der eine große Ziegelei besaß. Da konnte ich nach Feierabend ein paar Schilling hinzuverdienen. Aber dann im Sommer gab es einen Streik, der größte Streik von Ziegelarbeitern, der je in London stattgefunden hat. Pauling & Henfrey hieß die Ziegelfabrik – ich weiß nicht, ob du davon gehört hast.«
    Victor zögerte, unschlüssig, ob er wirklich berichten sollte, was danach geschehen war.
    »Was war der Grund für den Streik?«, fragte Emily.
    »Eigentlich nichts Besonderes. Mr. Pauling hatte die Form der Ziegel vergrößert, ohne unseren Lohn zu erhöhen, obwohl er selbst die größeren Ziegel für höhere Preise verkaufte. Dagegen haben wir protestiert, doch eine Lohnerhöhung wurde uns abgeschlagen. Also legten wir die Arbeit nieder, und die Assoziation der Ziegelmacher erklärte die Firma in die Acht.«
    »Und was passierte dann?«
    Victor zögerte ein zweites Mal. Wenn er jetzt weiterredete, würde Emily ihn entweder verachten oder Angst vor ihm haben. Auf jeden Fall würde sie nichts mehr von ihm wissen wollen. Trotzdem beschloss er, fortzufahren. Sein Stolz war stärker als seine Scham.
    »Mr. Pauling warb Ersatz für uns an«, sagte er, »Arbeitslose aus der Umgebung von London, die bereit waren, den Streik zu brechen, und stellte zur Bewachung des Fabrikgeländes ein Dutzend Männer auf, ehemalige Soldaten und Polizeidiener. Das konnten wir uns nicht gefallen lassen. Eines Abends tranken wir uns Mut an und stürmten die Ziegelei. Obwohl sie mit Flinten auf uns feuerten, konnten wir in den Hof eindringen, die nassen Ziegel zerstampfen und die trockenen zerschlagen. Wir haben alles demoliert, was uns in den Weg kam. Plötzlich stand Mr. Paulings Frau vor mir und kreischte wie am Spieß. Ich hatte keine Ahnung, woher sie auf einmal kam, und packte sie. Da spürte ich einen Schlag auf dem Kopf, einer der Wächter fiel über mich her. Was dann genau passiert ist, weiß ich nicht mehr. Am Ende lag der Mann vor mir am Boden, mit einem gebrochenen Arm, und Mrs. Pauling lief, immer noch kreischend, davon. Zwei Wachmänner schlugen mich nieder und führten mich ab. Eine Woche später haben sie mich verurteilt – ein Jahr, sieben Monate und zehn Tage. Erst nach meiner Entlassung kam ich zu Mr. Finch. Das war in diesem Frühjahr.«
    »Das heißt, du warst im Gefängnis?«, fragte Emily.
    Victor nickte. Auch Emily verstummte. Er wagte nicht, sie anzuschauen. Jetzt wusste sie Bescheid. Am Boden hatten die Ameisen inzwischen ihren Versuch aufgegeben, den Käfer über den Zweig zu tragen, und fingen an, den toten Körper an Ort und Stelle zu zerlegen.
    »Was muss man Menschen antun, dass sie so etwas machen?«, fragte Emily schließlich in die Stille hinein.
    »Ich hatte Schnaps getrunken«, sagte Victor.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es das war.«
    »Woher willst du das wissen? Du hast ja keine Ahnung.« Er hatte ihr so laut widersprochen, dass er über seine eigene Stimme erschrak. Leiser fügte er hinzu: »Es gibt etwas in mir, das mir Angst macht, Emily, etwas, das manchmal ganz plötzlich aufwacht, vor allem wenn ich Schnaps trinke, wie ein Flaschengeist, den man aus Versehen weckt.«
    »Nein, Victor, das ist doch Unsinn.« Emily griff nach seiner Hand und blickte ihn an. »Wenn jemand Schuld hat, dann sind das meine Eltern und … und wahrscheinlich auch ich. Ohne uns wäre alles anders gekommen.« Sie machte eine Pause und dachte nach, bevor sie weitersprach. »Ich finde, du solltest mit meinem Vater reden. Er ist hier in Chatsworth, wegen der Taufe, wir können gleich zu ihm gehen, wenn du willst.«
    »Reden?«, fragte Victor. »Wozu? Außerdem, ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Vater Lust hat, mich überhaupt …«
    Ein Hund bellte in der Nähe, und im nächsten Moment flatterte eine Kette Enten von dem Teich auf. In der Ferne sah Victor einen Mann und eine Frau, die mit einem Terrier durch die Schlucht auf sie zukamen.
    »Meine Eltern!«, sagte Emily.
    Als hätten sie sich abgesprochen, sprangen sie auf und kletterten auf die Leiter. Zum Glück

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