Die Rebellin
Kunst«, erwiderte er in der Hoffnung, dass sie nicht merkte, wie stolz ihn ihre Begeisterung machte. »Es kommt nur darauf an, dass die Druckfläche vollkommen eben ist, um einen zu scharfen Druck zu vermeiden. Das ist vor allem bei Illustrationen wichtig, weil dort hell und dunkel oft ganz nah beieinander liegen. Um die Kontraste zu verstärken, habe ich an ein paar Stellen die Schraffuren ein bisschen verändert. Siehst du? Hier, und da und dort. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.«
»Wie denn? Im Gegenteil! Aber wir müssen aufpassen, dass kein Schmutz daran kommt.« So behutsam, als hielte sie ein Kunstwerk in der Hand, legte sie den Bogen wieder in die Mappe. Dann setzte sie sich auf einen Baumstumpf und forderte ihn auf, neben ihr Platz zu nehmen. »Ich habe einen Wunsch, Victor, aber ich weiß nicht, ob ich dich darum bitten darf.«
»Du kannst es ja versuchen.«
»Erzählst du mir, wie es dir damals ergangen ist, ich meine, nachdem ihr von hier fort musstest, du und deine Mutter?«
Er hatte die Frage befürchtet, doch jetzt, als Emily sie stellte, wusste er nicht, was er darauf antworten sollte. Was hatte es für einen Sinn, die alten Geschichten auszugraben? Es war alles schon so lange her, und gleichzeitig doch noch so frisch, dass es immer noch wehtat. Emily lebte in ihrer Welt und er in der seinen – von dem Geld, das ihre Bluse kostete, konnte er mehrere Monate leben. Für einen Moment bereute er, dass er zurückgekommen war. Doch dann sah er ihr ernstes Gesicht, ihr aufmunterndes Kopfnicken, und er setzte sich zu ihr.
»Dein Vater hatte uns Geld gegeben«, sagte er, die Augen auf ein paar Ameisen gerichtet, die am Boden einen toten Käfer durch die faulen Blätter trugen, »für die Reise und die erste Zeit zum Leben. Und außerdem eine Adresse, an die wir uns wenden konnten, in Manchester, bei einer Baumwollspinnerei.«
»Hast du da gearbeitet?«
»Ja, zusammen mit meiner Mutter. Jeden Tag von morgens sechs bis abends um zehn.«
»Was? Wir haben doch das Zehn-Stunden-Gesetz, und Kinder dürfen sowieso nicht mehr als neun Stunden am Tag arbeiten.«
»Kinder, ja«, sagte Victor, »aber sobald ich dreizehn war, galt das Gesetz für mich nicht mehr, und das Zehn-Stunden-Gesetz war noch nicht in Kraft. Einmal bin ich im Stehen eingeschlafen und habe im Schlaf an den Spindeln gedreht, genauso wie bei der Arbeit. Als meine Mutter das sah, hat sie alles Geld zusammengekratzt, das wir noch hatten, damit ich was Anständiges lernen konnte. Wir hatten Glück, und ich fand eine Lehrstelle bei einem Buchdrucker, der nur fünf Pfund Lehrgeld verlangte. Aber der ging nach ein paar Monaten Pleite, und wir sind weiter nach London gezogen.«
»Wo habt ihr da gewohnt?«
»Am Anfang in einer kleinen Herberge, nicht weit von der Tottenham Court Road entfernt, zusammen mit ziemlichem Gesindel, Taschendieben und so. Wir schliefen alle in einem Saal. Meine Mutter hat nachts kein Auge zugemacht, um auf unsere Sachen aufzupassen, und ich hatte solche Angst, dass ich heimlich Schnaps trank. Aber das dauerte nicht lange. Meine Mutter bekam Arbeit in einer kleinen Wäscherei, die sie nach dem Tod der Besitzerin später selbst weiterführte. Danach ging es uns besser.«
Victor machte eine Pause und sah zu, wie die Ameisen immer wieder versuchten, den Käfer über einen Zweig zu transportieren. »Die Narbe auf deiner Stirn«, sagte Emily nach einer Weile, »ist die von damals? Ich meine, du weißt schon …«
»Du meinst, als dein Vater mich verprügeln ließ?« Victor schüttelte den Kopf. »Nein, die stammt aus der Zeit, als wir in der Herberge wohnten. Es war Winter und ich hatte aus Angst vor dem Einschlafen so viel Schnaps getrunken, dass ich in der Nacht fast erfroren wäre. Nur eine aufgeplatzte Frostbeule. Du brauchst also kein schlechtes Gewissen zu haben.«
»Wer hat behauptet, dass ich das hätte?«, fragte Emily. »Ach, natürlich habe ich das«, sagte sie dann, und ihr Gesicht verriet, wie Leid es ihr tat. »Aber erzähl weiter, bitte. Was hast du in London gemacht? Hast du gleich bei Mr. Finch gearbeitet?«
»Um Gottes willen«, lachte Victor. »Dann würden deine Seerosen jetzt anders aussehen. Nein, als meine Mutter mit der Wäscherei anfing, habe ich meine Lehre in Chelsea fortgesetzt, bei Timothy Hickstead, dem besten Drucker von London. Alles, was ich heute kann, habe ich von ihm gelernt. Damals hatten wir wirklich eine gute Zeit. Meine Mutter verdiente nicht schlecht, wir hatten eine hübsche
Weitere Kostenlose Bücher