Die Rebellin
er sie im Büro der Reederei nicht vorzeigen. Sein Ausweis trug immer noch den Vermerk seiner Haftstrafe im Coldbath Fields Gefängnis, mit der Unterschrift von Direktor Mayhew.
An der Kreuzung herrschte trotz der späten Stunde fast so viel Verkehr wie am hellen Tag. Cabriolets, Mietkutschen, Equipagen und Theater-Omnibusse rollten unaufhörlich hin und her und ließen das Wasser in den Pfützen aufspritzen. Victor wartete einen Zweispänner ab, der im scharfen Trab vorüberrasselte, und überquerte die Straße.
Auf der anderen Seite begann die Hampstead Road, er konnte in der Ferne schon den Bahnhof erkennen, das Büro musste kurz dahinter sein. Da sah er plötzlich Toby, nur einen Steinwurf von ihm entfernt. Er ging zusammen mit Robert den Bürgersteig hinauf, in Richtung des Droschkenplatzes, der sich vor dem Bahnhof zur Straße hin öffnete. Was zum Henker hatten die zwei hier verloren? In der Gegend von Euston Station gab es keine Rattenkämpfe, und dass sie mit dem Zug verreisen wollten, war noch unwahrscheinlicher, als dass Mr. Finch aufhörte zu saufen. Robert hatte den Arm um Tobys Schulter gelegt und redete im Gehen auf ihn ein. Fast sah es so aus, als würde er den Jungen gegen seinen Willen mit sich schleppen.
»Keine Augen im Kopf, Mister?«
Victor war über einen Schuhputzer gestolpert, der ihm wütend mit seiner Bürste drohte. Je näher er dem Bahnhof kam, destodichter wurde das Gedränge. Hunderte von Menschen, einer eiliger als der andere, hasteten aneinander vorbei; die meisten Passanten hatten Regenschirme aufgespannt, sodass er Mühe hatte, Robert und Toby im Auge zu behalten. Die zwei waren bereits am Droschkenplatz angelangt, als ein Bierverkäufer mit einem Fass auf dem Rücken ihm den Weg versperrte.
»Bestes Lager, Sir! Nur ein Penny das Glas!«
Victor stieß den Mann beiseite und eilte weiter, doch als er den Platz erreichte, waren Toby und Robert verschwunden. Ein paar Kutscher standen, mit großen Messingschildern auf der Brust, unter einem Vordach im Schein einer schmutzigen Laterne beisammen und rauchten Pfeife. Ohne große Hoffnung fragte er, ob sie einen Mann und einen Jungen mit roten Haaren gesehen hätten. Einer der Kutscher nahm die Pfeife aus dem Mund, und zu Victors Überraschung zeigte er über die Schulter, ans andere Ende des Platzes.
»Sie sind in die Richtung gelaufen. Hatten es ziemlich eilig.«
»Was? Zum Güterbahnhof?«
»Wohin sonst, Mister? Zum Buckingham-Palast?«
Die Kutscher lachten. Victor überkam plötzlich ein fürchterlicher Verdacht. Sollten Toby und Robert etwa …? Aber nein, das war unmöglich. Trotzdem … Er schaute zur Bahnhofsuhr, die über dem Portal ihr milchiges Gaslicht in der Dunkelheit verströmte: fünf nach halb zehn – fast noch eine halbe Stunde, bis das Büro der Reederei schloss.
Ein paar Ratten rannten quiekend davon, als er eine Minute später über den Zaun sprang, der den Droschkenplatz vom Güterbahnhof trennte. Beim Landen rutschte er auf dem glitschigen Boden aus und verstauchte sich den Knöchel. Es regnete inzwischen so stark, dass die Nässe durch seine Kordjacke drang. Auf dem Gelände herrschte tiefschwarze Nacht. Während er sich den Knöchel rieb, brauchten seine Augen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann erkannte er die Umrisse seiner Umgebung: ein paar Waggons, dazwischen lautlose, gebückteGestalten – Kohlendiebe, die die Gleise absuchten. Victor war gleichzeitig erleichtert und wütend. Hatte Toby ihn dafür versetzt? Um mit Robert Kohlen zu klauen?
Plötzlich hörte er in seiner Nähe leise, aufgeregte Stimmen.
»Habt ihr den Zünder mitgebracht? Gut! Dann mache ich jetzt die Flasche auf. Aber Vorsicht! Sonst fliegen wir alle in die Luft!«
Der Mann sprach mit ausländischem Akzent, Victor konnte ihn kaum verstehen. Am Himmel trat für einen Augenblick der Mond zwischen den Wolken hervor. Victor duckte sich hinter einen Eisenbahnwaggon. An der Schiebetür schimmerte im fahlen Licht ein Schild:
Midland Railway
.
»Unser junger Freund soll beim Schuppen aufpassen. Ich habe bewaffnete Wachmänner gesehen, die sich da untergestellt haben.
Eh bien
, das wird den Herrschaften nichts nützen. Bist du bereit,
mon ami?«
Es war wie ein Schlag in die Magengrube, als Victor die Antwort hörte. Er kannte die Stimme, eine helle, noch ganz junge Stimme, die gerade erst den Stimmbruch hinter sich hatte. Sie war voller Angst und sagte nur ein Wort:
»O… okay.«
16
Die Glocke von Big Ben
Weitere Kostenlose Bücher