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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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schlug bereits die zehnte Abendstunde, als Colonel Sibthorp den förmlichen Antrag der Opposition dem Parlament zur Abstimmung vortrug.
    »Diese Frage, Gentlemen, ob im Hyde Park ein Gebäude von derartigen Ausmaßen errichtet werden darf, ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass sie höheren Orts entschieden werden muss. Wir verlangen darum eine Adresse an die Königin, mit derdringenden Aufforderung, dieses Vorhaben zu untersagen, sowie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der alle bisherigen Vorgänge einer strengen Prüfung unterzieht. Im Namen Gottes und der englischen Nation bitte ich Sie, diesen Antrag mit Ihrer Stimme zu unterstützen.«
    Emily musste so dringend zur Toilette, dass sie die Schenkel zusammenpresste, aber sie war viel zu gespannt, um die Galerie jetzt auch nur eine Minute zu verlassen.
    »Was glaubst du, wie es ausgehen wird?«, fragte sie ihren Vater.
    »Wenn sie einen Untersuchungsausschuss einsetzen, ist es das Ende.«
    Im Saal herrschte ein Lärm wie in Smithfield am Markttag. Während der Parlamentspräsident die Abstimmung vorbereitete, redeten und riefen die Abgeordneten wild durcheinander. Die meisten standen in Gruppen beisammen, um gestikulierend ihre Meinungen auszutauschen. Auf der Seite der Whigs erkannte Emily William Gladstone, den ehemaligen Handelsminister, der in seiner Rede die Ausstellung zu einer Sache der nationalen Ehre erklärt hatte – im Falle einer Aufgabe wäre Großbritannien vor der ganzen Welt für immer blamiert! Um ihn scharten sich die wichtigsten Abgeordneten, die die Königliche Kommission für die Debatte aufgeboten hatte: der jetzige Handelsminister Labouchere, der Eisenbahnkönig Robert Stephenson sowie der Führer der Radikalliberalen, Joseph Hume. Aber was konnten ihre Argumente gegen die wütende Leidenschaft ausrichten, mit der Sibthorp seine Attacken vorgetragen hatte? Nur ein Mann hätte das Ruder noch herumwerfen können, Sir Robert Peel. Doch auf seinem Platz hatte sich schon ein junger Whig breit gemacht, den Emily nicht einmal kannte, und streckte die Beine der Länge nach von sich, als säße er bei sich zu Hause im Ohrensessel.
    Plötzlich ging ein Raunen durch den Saal. Die Abgeordneten drehten die Köpfe zur Saaltür herum, von wo die Unruhe kam. Emily beugte sich vor. Da entdeckte sie ihren Verlobten, HenryCole. Zusammen mit mehreren Saaldienern verteilte er druckfrische Zeitungen, allem Anschein nach eine Ausgabe der
Illustrated London News
. Wie eine Welle breitete sich die Unruhe um ihn herum aus – Abgeordnete aller Parteien umringten ihn und rissen ihm das Blatt aus den Händen. Jemand zeigte zur Galerie hinauf, genau in Emilys Richtung.
    »Da! Da oben sitzt er!«
    »Wer? Wo?«
    »Joseph Paxton! Auf der Besuchertribüne!«
    »Tatsächlich! Mit seiner Tochter!«
    Emily schaute ihren Vater an. Was hatte das zu bedeuten? Paxton zuckte die Schultern.
    »Ruhe, Gentlemen! Ruhe!« Der Sitzungspräsident klopfte mit einem Hammer auf den Tisch, um die Versammlung zur Ordnung zu rufen. »Ich fordere Sie zur Abstimmung über den Antrag des Abgeordneten Sibthorp auf! Wer gegen den Antrag ist, möge die Hand heben!«
    Auf einmal war es so still im Saal, dass man den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln hörte. Emily sah, wie Gladstone und Stephenson die Hand hoben, ebenso Labouchere und Hume, doch kaum mehr als zwei Dutzend Abgeordneter folgten ihrem Beispiel. Die meisten anderen zögerten, blickten abwechselnd auf Colonel Sibthorp, der mit erhobenem Kinn und versteinertem Gesicht das Ergebnis abwartete, und die Mitglieder der Regierung, die nervös auf ihren Plätzen hin und her rutschten.
    »Aus der Traum«, sagte Paxton leise. »Das wird nie und nimmer reichen.«
    Wieder spürte Emily den entsetzlichen Druck auf ihrer Blase und wollte aufstehen. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu hoffen. Sie raffte ihre Röcke – da hob ein Tory, ein hagerer Greis mit schlohweißem Haar und Hakennase, die Hand, in der er eine Zeitung hielt.
    Es war, als hätte der Starter auf der Rennbahn die Flagge gesenkt.
    Im nächsten Moment flogen überall die Hände in die Höhe, bei den Tories, bei den Whigs, bei den Radikalen – quer durch alle Parteien!
    Emily brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen. Dann hielt es sie nicht mehr auf ihrer Bank.
    »Sieg! Sieg! Sieg! Wir haben gewonnen!«
    Jubelnd umarmte sie ihren Vater, der sie so heftig an sich drückte, als wolle er sie zerquetschen. Die Abgeordneten im Saal erhoben sich von ihren Plätzen,

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