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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ich dich zum Arzt. Und wenn wir beim Arzt waren, besorge ich eine Flasche Whisky.«
    »Du willst … Whisky kaufen?«, fragte Toby ungläubig. »Für mich?«
    »Ganz für dich allein. Und Kautabak. Einen Priem zu sechs Pence, den teuersten, den es gibt. Für den besten Freund der Welt.«
    Draußen heulte eine Sirene. Toby riss die Augen noch weiter auf.
    »Sind … sind wir hier schon am Hafen?
    »Am Hafen?«, fragte Victor. »Wir sind am Bahnhof, Euston Station! Erinnerst du dich nicht?«
    »Aber … ich höre … doch … ein Schiff.«
    Toby lächelte ihn an. Victor schrak zusammen. Aus dem Mund seines Freundes rann ein feiner, dünner, dunkler Strahl. Victor wusste, was das bedeutete: Er brauchte den Schilling in seiner Tasche nicht mehr, es würde keine Droschkenfahrt geben, kein Arzt konnte Toby mehr helfen. Verzweifelt strich er ihm über das Haar, über die bleichen verschmierten Wangen, als könnte er so den Tod noch ein paar Sekunden hinauszögern, genauso, wie er es getan hatte, als seine Mutter gestorben war. Und während er das tat, zuckte ihm ein Gedanke durch das Gehirn, nur eine Sekunde, doch so scharf wie ein Messer: Robert wäre ohne ihn nie auf die Idee gekommen, einen Zug in Brand zu setzen … Victor wandte den Kopf zur Seite, er konnte Tobys Anblickplötzlich nicht mehr ertragen. An der Bretterwand des Waggons blinkte ein Messingschild:
Midland Railway
.
    Wieder heulte die Sirene.
    »Victor …?«
    Er zwang sich, Toby wieder anzuschauen. Als er sein Gesicht sah, musste er schlucken. Toby sah so glücklich aus, als hätte er gerade eine wunderbare Nachricht erfahren.
    »Ist … das unser Schiff?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Victor leise, »das ist die
Liberty
. Sie … sie läuft gleich aus.«
    »Gott sei Dank … Wir … haben es geschafft. Wir haben es … tatsächlich geschafft …«
    Toby war so schwach, dass er nicht mehr weitersprechen konnte. Victor spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Er kniete sich hin und hielt die Hand seines Freundes. Er hatte nur noch das Bedürfnis, ihm so nah wie möglich zu sein. Die Hand kam ihm ganz klein vor, so klein wie die Hand eines Kindes.
    »Sag mir… wie es in Amerika ist«, flüsterte Toby ihm ins Ohr. »Ich … ich will es noch einmal hören … vor der Abfahrt …«
    Victor konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Nur mit Mühe gelang es ihm zu sprechen. »In Amerika«, sagte er, »ist alles viel größer und schöner und besser als hier. Deshalb fahren wir ja auch dahin, du und ich, damit wir endlich so leben können, wie wir es schon immer wollten. Überall duftet es nach Bratfisch, dem leckersten der Welt, an jeder verdammten Straßenecke stehen Buden, und an den Bäumen wächst Kautabak, in saftigen schwarzen Priemen, du musst nur danach greifen, und in den Bächen fließt goldbrauner irischer Whisky, jeder darf darin baden, solange er will.«
    Toby runzelte die Stirn. »Wie … wie kann das sein? Du … hast doch gesagt …, alles zusammen … schmeckt grässlich … wie Elefantenpisse … Bratfisch … und Kautabak … und Whisky … auf einmal …«
    »Nur hier in London«, sagte Victor, während die Tränen ihm dieWangen herabliefen. »Aber nicht in Amerika. Glaub mir! In Amerika schmeckt alles noch viel besser als hier, ganz egal, ob einzeln oder zusammen, weil alles in Amerika besser und größer und schöner ist als irgendwo sonst auf der Welt. Darum fahren wir jetzt los, das Schiff läuft aus, unsere
Liberty
, das größte und schönste und beste Schiff im ganzen Hafen. Die Maschinen sind schon unter Dampf. Spürst du, wie sie stampfen?«
    »Okay«, sagte Toby, und sein Gesicht entspannte sich wieder zu einem Lächeln, »dann ist es okay, Victor … mein Freund … dann ist es o…«
    Er machte mitten im Wort eine Pause, um Atem zu holen, er wollte noch etwas sagen. Doch als er den Mund wieder öffnete, brachen seine Augen, und sein Kopf rollte zur Seite.

18
     
    Mit lautem Knall löste sich der Pfropfen aus der Flasche, und rauchend floss der Champagner in die Gläser.
    »Prosit«, sagte Henry Cole. »Auf die Zukunft!«
    »Auf uns«, erwiderte Emily.
    Die roten Samtvorhänge waren zugezogen, und an den Wänden brannten Kerzen. Emily war allein mit ihrem Verlobten in einem Chambre séparée, und die Aufregung kribbelte in ihrem Magen noch mehr als der Champagner auf ihrer Zunge. Cole hatte den Raum im
Claridge’s
gemietet, einem erst kürzlich am Piccadilly Circus eröffneten Restaurant, um ihren Erfolg zu feiern.

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