Die Rebellin
fahren. Im Auftrag der Midland Railway boten Thomas Cook & Son in allen britischen Großstädten Zugreisen an, und die Direktoren der Eisenbahngesellschaft beschlossen, einhundert neue Waggons anzuschaffen, um all die Menschenmassen zu befördern, die aus England und vom Kontinent nach London strömen würden.
Nur Colonel Sibthorp wurde nicht müde, das Unternehmen mit seinem Hass zu verfolgen. Während die ganze Nation im Ausstellungsfieber lag, brandmarkte er das Gebäude im Hyde Park als babylonischen Turm der Neuzeit und flehte im Parlament zum Himmel, die Faust Gottes möge in das frevlerische Bauwerk fahren und es zu Scherben zerschmettern.
2
»Königliche Hoheit«, sagte Emily und machte einen Hofknicks.
»Aber bitte, Miss Paxton, lassen Sie doch die Förmlichkeiten«, erwiderte Prinz Albert ein wenig verlegen. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits, zumal ich Ihnen Grüße von der Königin ausrichten darf. Sie erinnert sich noch heute an Ihre kleine Demonstration in Chatsworth. Auf einem Blatt der
Victoria regia
, nicht wahr? Sehr eindrucksvoll, überaus eindrucksvoll, durchaus.«
Emily staunte, wie freundlich der Prinzgemahl war. Er wirkte kein bisschen arrogant, wie manche Leute behaupteten, er drückte sich nur etwas umständlich aus. Auf jeden Fall gab es keinerlei Grund, in seiner Gegenwart aufgeregt zu sein. Sie hatte ihren Vater und Henry Cole auf die Baustelle begleitet, wo Prinz Albert sich über den Stand der Arbeiten unterrichten ließ. Er kam fast täglich in den Hyde Park, der Siegeszug der Weltausstellung galt im ganzen Land als sein persönlicher Erfolg. Jetzt standen sie zu viert im halbfertigen Transept des Pavillons, einem Kuppelbau in der Mitte des Gebäudes, dessen gläsernes Dach sich einmal über die Jahrhunderte alten Ulmen spannen würde, die dank dieser Erweiterung von Paxtons Entwurf unbeschadet die Weltausstellung überstehen konnten – ein Zugeständnis an Colonel Sibthorp, der sich für die Bäume eingesetzt hatte, als hinge von ihrem Erhalt die Zukunft des Königreichs ab.
»Darf ich Ihnen helfen?«
An der Hand des Prinzgemahls stieg Emily über eine Stahlstrebe. Wenn das ihre Mutter sehen könnte – sie würde platzen vor Stolz! Am liebsten würde Emily die Gunst der Stunde nutzen, um Albert zu ihrer Hochzeit einzuladen. Der Prinzgemahl, der Königshof, die ganze Welt sollte wissen, dass Mr. Henry Cole, der Mann, der all dies ersonnen hatte,
ihr
gehörte – ihr ganz allein! Doch Albert hatte andere Sorgen.
»Ich habe gehört«, sagte er, »es gebe womöglich Streik. Ist an dem Gerücht etwas dran? Die Königin ist durchaus beunruhigt. Ein Streik, wie soll ich sagen, das wäre ja gerade so, als würde der Himmel unsere Kritiker erhören.«
»Solche Gerüchte gibt es auf jeder Baustelle«, erwiderte Cole. »Sie können unserem Unternehmen nichts anhaben. Abgesehen davon herrscht ja Gott sei Dank kein Mangel an Arbeitern. Sollte es irgendwelchen Leuten je in den Sinn kommen zu streiken, stehen ganze Heerscharen bereit, um sie zu ersetzen.«
»Teilen auch Sie diese Ansicht, Mr. Paxton?«, fragte Albert. »Damit wir uns recht verstehen – in diesem Punkt darf nicht die kleinste Unsicherheit aufkommen. Wir müssen den Termin unbedingt halten.«
»Ich kann Sie vollkommen beruhigen, Königliche Hoheit. Unsere Leute arbeiten vierzehn Stunden täglich.«
»Ist das nicht verboten? Das Zehn-Stunden-Gesetz sieht doch unmissverständlich vor …«
»Richtig, aber wir haben eine Sondererlaubnis.«
»Und die Männer wehren sich nicht?«
»Nicht ein Einziger. Die Firma Fox & Henderson ist ja ein Eisenbahnunternehmen und hat seit Jahren Erfahrung darin, große Massen von Arbeitern zu organisieren. Die Verhältnisse hier auf der Baustelle sind denen beim Streckenbau sehr verwandt. Zur Beschleunigung der Montage haben wir eine vollkommen neuartige Bauweise entwickelt, die wie eine fabrikmäßige Produktion der Logik reiner Zweckmäßigkeit gehorcht. Wie Sie sehen, erfolgt der Ablauf der Arbeiten in der Längsrichtung des Gebäudes, ein Ordnungsprinzip, das bis in die kleinsten Details der Konstruktion hineinwirkt …«
Während ihr Vater das Verfahren erklärte, wunderte Emily sich, dass er genauso wenig wie Cole auf die eigentliche Frage des Prinzgemahls einging. Dabei machten die zwei sich selbst große Sorgen wegen eines Streiks, seit Tagen sprachen sie von nichts anderem. Und auch die Behauptung, dass kein Mangel an Arbeiternherrsche, war eine glatte Lüge – das
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