Die Rebellin von Leiland 1: Maske (German Edition)
gewusst, was er erklären sollte!
Sehr zu seinem Schmerz hatte er danach nie mehr geherrscht, wie er es einst getan hatte. Der Herzog von Alekant war ihm in seinem Leid eine Stütze gewesen. Als er ihn so heftig erschüttert, von all den aufeinander folgenden Tragödien niedergeschmettert und bekümmert über den Tod seiner Königin gesehen hatte, hatte er ihm den Gedanken eingegeben, seine Töchter zu verschleiern, bevor sie ihrer Mutter zu ähnlich werden und ihm neues Leid verursachen konnten. Ohne nachzudenken hatte er dieses Gesetz unterzeichnet. Aus dem Egoismus seiner zerstörten Liebe heraus hatte er seine Vaterrolle nicht weiter wahrgenommen und seine Töchter vergessen. In der Raserei seiner Verzweiflung hatte er Elea zum Verbotenen Namen erklärt, wie es bei einer Verbrecherin geschehen wäre, ohne an die Konsequenzen all seiner Taten zu denken. Sein einziges Ziel war gewesen, dass keine Menschenseele je wieder diese schmerzlichen Silben aussprechen sollte.
Seit langem hatte er versucht, seine Entscheidungen rückgängig zu machen, aber diese beiden Gesetze gehörten für alle Zeit zu den Verbotenen Gesetzen: Kein Herrscher, nicht einmal der, der sie erlassen hatte, konnte sie auslöschen – er konnte sie nur anwenden.
Der König hatte den Blick ins Leere gerichtet. Er war vollkommen am Boden zerstört. Die Maske hatte recht. Seine Töchter büßten für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, und er konnte trotz seiner Krone keine Gerechtigkeit walten lassen. Er selbst war das abscheuliche Wesen – nicht das Ungeheuer, das sein drittes Kind entführt hatte.
Trotz all der Jahre, die vergangen waren, sah er das Gesicht derjenigen vor sich, die er nie aufgehört hatte zu lieben. Seine Königin, sein Leben, war aus diesen Welten geflohen. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass er für das Massaker an den Neugeborenen verantwortlich war? Er war ja der Erste gewesen, der Elea gegenüber gewalttätig geworden war.
Seine aschgrauen Augen ließen eine Träne auf seine Wange fallen, die plötzlich faltig geworden war.
Zwei Karren verließen den Palast: Die dreißig Kinder aus Eade duckten sich unter einer Plane aus Sackleinen auf den Holzboden, und die jüngst eingesperrten Gaukler suchten ebenfalls erleichtert das Weite.
Kein Wachsoldat hielt sie auf ihrem Weg in den unteren Hof auf: Die fünf, die die Stallungen überwachten, und die zehn, die vor den Karren Posten bezogen hatten, waren von Erwan überwältigt worden. Seine Sackleier war mehr als ein Musikinstrument. Mittels kleiner Pfeile, die mit einem Schlafmittel aus eigener Herstellung beschichtet waren, benutzte der Akaler sie auch als kampfunfähig machende Waffe. Die Soldaten auf der Brücke kümmerten sich nicht um sie. Sie konzentrierten sich auf die immer heftigeren Windböen auf der Brücke und sahen nach außen, so dass sie das Geschehen auf dem Hof gar nicht bemerkt hatten. Es stand zu vermuten, dass die Sarikeln ihren Posten noch nicht wieder eingenommen hatten, so dass die Freiheit den Kindern von Eade und ihren Rettern lachte.
Hinter einem Türpfosten des Stalls versteckt sahen scharfe, mandelförmige Augen sie die Brücke überqueren und vor den Augen der Wachen, die nicht reagierten, in den Wind fliehen. Der Spion stand auf. Es war ein kleiner Junge von ungefähr acht Jahren. Die Entbehrungen seiner Kindheit hatten ihn die Härten des Lebens gelehrt, aber sein vorzeitig gereifter Verstand verbarg sich hinter einem verschmitzten Gesicht, das von der Unregelmäßigkeit seiner beiden großen Schneidezähne noch betont wurde. Ein kleines Buch ragte aus der Hintertasche seiner Hose hervor.
Vorsichtig kehrte er in den großen Ehrenhof zurück, der nur von einigen matten Flammen aus eisernen Feuerkörben erhellt wurde. Dann sprang er die Außentreppe einer Galerie empor. Er wusste nicht, wo sich der Thronsaal befand, aber er brach in die Richtung auf, die ihm logisch erschien: zum Obergeschoss des Bergfrieds. Der Junge nahm alle Treppen, die hinaufführten. Seine derben Schuhe sanken in die dicken Teppiche ein. Die großen Arkaden schienen sich über den kleinen, beklommenen Dreikäsehoch zu beugen. Mit seinen zu langen, braunen Haarzotteln und seiner am Knie durchlöcherten Hose war er an diesem Ort wahrlich fehl am Platze.
Unterwegs ließ ihm ein Geräusch plötzlich einen Schauer über den Rücken laufen: Ein Hornsignal erscholl von fern in der Hauptstadt. Er vergaß seine Zurückhaltung und rannte die nächste Treppe empor. Dabei
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