Die Rebellin von Leiland 1: Maske (German Edition)
es nicht, auch nur einen Schritt mehr zu machen. Der junge Mann warf ihm das Fleisch zu. Überrumpelt von der Bewegung wich das Tier zurück, kam dann aber wieder, um sich das Stück zu schnappen und sich aufs Neue zu entfernen. Ganz zappelig begann der Wolf, das Fleisch gierig zu verschlingen, offensichtlich eher aus Appetit als aus echtem Hunger.
Andin tat dasselbe; das Fleisch war wirklich sehr gut. Wenn er die Augen schloss, fand er sich an der königlichen Tafel wieder, und eine Leckerei mit Holunderblüten rief ihm seine fröhlichen Ausflüge in die Küchen des Schlosses von Pandema in Erinnerung. Im Austausch gegen eine solche Mahlzeit und derart süße Erinnerungen war er gern bereit, seine Unbekannte so oft zu retten, wie sie es nur wollte!
Die Nacht hatte sich herabgesenkt. Satt wärmte Andin sich in seinem neuen Umhang auf und streckte sich bei einem Felsen nahe des Feuers aus. Er spürte, dass er gerne mit jemandem gesprochen hätte. Nis fehlte ihm. Sie verließ ihn nur selten.
Sie war ausdauernd und schnell und erwies sich den Pferden, die er vor ihr hatte reiten können, immer wieder als überlegen. Unter ihrer gewöhnlichen Farbe verbarg sie ihre außergewöhnlichen Qualitäten vor Neidern: Ihr Körper war für einen Kenner eine perfekte Mischung aus Muskeln und Geschmeidigkeit. Noch stolzer war Andin auf ihre Intelligenz. Sein Vater machte ihm zum Vorwurf, dass er sich für – wie er es ausdrückte – einen bloßen Zelter entschieden hatte. Aber Andin hätte um nichts in allen Welten ein schwarzes oder weißes Pferd haben wollen, um irgendeine Eitelkeit zu befriedigen. Dafür liebte er die weichen, hellen Nüstern seiner Stute und den weißen Fleck an ihrem Hinterbein viel zu sehr!
Der Wolf setzte sich auf den höchsten Punkt eines dicken Baumstumpfs. Seine beiden Schlitzaugen funkelten in der Dunkelheit. Der junge Mann wusste diese wilde Gesellschaft zu schätzen.
»Was für ein Tag!«, rief er und blickte zum Himmel empor. Eigentlich war er von den Ereignissen doch geradezu verwöhnt worden!
Der Wolf senkte gemessen die Lider, als wolle er die Bemerkung des Mannes bekräftigen, was ihn selbst betraf.
»Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«
Zwischen einer aufgerollten Schnur, ein wenig Zunder und einer stählernen Klinge ergriff Andin in seiner Botentasche seine Sackleier, ein kleines Musikinstrument, das eine schöne Mischung aus Leier und Flöte war. Er hatte es von einem kleinen, alten Mann aus dem Lande Akal erhalten. Trotz der komplexen Spielweise war es Andin gelungen, im Laufe der Jahre all seine Klänge beherrschen zu lernen.
Bei den ersten Tönen kam der Wolf sacht näher und streckte sich aus. So als würde er diese Melodie kennen. Das kleine Tagelied tönte durchdringend und fließend durch die Nacht, beschienen von einem einzigen Mond mit malvenfarbenem Schimmer. Der Pandemer legte seine ganze Seele in die Musik und spielte für die, die er liebte. Der Wald gehörte ihm, so hatten die Worte der jungen Frau gelautet. In der Abendruhe hatte Andin, begleitet von den Rufen einiger Käuzchen und Uhus, den Eindruck, dass sie ihm einen Platz zugewiesen hatte und sich an seiner Seite befand. Er spürte ihre Gegenwart, da, ganz in der Nähe. Wird mein sechster Sinn schon genauso verrückt wie ich?
Andins Instinkt trog nicht. Jenseits des Steilhangs und der weißen Steine wuchs im Verbotenen Wald am Rande einer der Klippen, die tief ins Binnenmeer abfielen, ein riesiger Baum mit in die Luft ragenden Wurzeln mitten auf einer Wiese. Zwischen seinen Zweigen und an seinem Fuße waren große Holzhäuser errichtet worden. In einem davon erwachte das Mädchen-mit-den-blauen-Augen endlich beim Klang der leisen, fernen Musik.
Sie hatte den ganzen Abend lang geschlafen; der Schmerz der Heilung war zu heftig gewesen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr so schlecht gehen würde. Dennoch musste sie ihrem kleinen Füllhorn für ihre Genesung danken. Das einfache Schmuckstück war ein echtes Füllhorn – nur, dass es neben seiner Macht, jeden materiellen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen, auch die besaß, eine Wunde zu heilen. Aber jeder Wunsch hatte seinen Preis: Eine Müdigkeit, die der entsprach, die sich aus der Herstellung der verlangten Gegenstände ergeben hätte, und die Summe des Leidens, die eine normale Genesung mit sich gebracht hätte.
Vic war die Einzige, die sich dieses Geschenks der Drei Feen bedienen konnte. Sie hatte es vor zwei Stunden zum Heilen benutzt und
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