Die Rebellin von Leiland 2: Das Gift des Herzogs (German Edition)
Höhe vergessen, in der sie sich befand. Sie hatte den ganzen Tag lang Gleichgewichtsübungen gemacht, es bestand kein Grund zu der Annahme, dass sie heute Abend fallen würde.
Stück für Stück glitt ihr linker Fuß über den Steingrat nach vorn. Auf der anderen Seite tat ihr rechter Fuß dasselbe. Der Bogen war breit genug und nur sanft geneigt; sie musste es schaffen.
Konzentration, Entschlossenheit, Selbstvertrauen.
Hoch oben am Himmel wurden die Wolken von einer leichten Brise davongetrieben. Der aufkommende Wind strich an den Beinen der jungen Frau empor und lief ihr wie ein Schauer über den Rücken. Elea machte nun längere Schritte auf dem Bogen; sie ließ sich von ihren hellwachen Sinnen leiten. Wie eine Seiltänzerin überwand sie ihre Furcht. Eine zerbrechliche Gestalt im Dunkel, die im Leeren hing, hypnotisiert vom anderen Ende, der anderen Seite, dem anderen Turm.
Nur noch zwei Schritte … Nur noch einer … Elea schlang beide Arme um die Mauer. Das Gesicht an die Wand gepresst atmete sie tief ein und wartete, bis ihr Herz sich von seiner Furcht befreit hatte. In gewisser Weise bedauerte sie, dass Joran sie nicht gesehen hatte: Er hätte ihr nie mehr vorgeworfen, keinen Gleichgewichtssinn zu haben.
Triumphierend hob sie den Kopf. Nur noch siebzig Fuß. Es gab hier kein Fenster: Die Stockwerke waren versetzt zu denen des Wachturms angeordnet. Die Wände waren auch hier glatt, aber Elea wusste, dass sie zwischen den Kragsteinen, die die Turmspitze zierten, Holzbalken vorfinden würde. Es war zu dunkel, um sie zu erkennen, aber alle Burgbauten ähnelten sich: Elea kannte ihre Lage.
Sie musste ihr Horn einsetzen, denn sie hatte keine Wahl mehr. Sie kauerte sich an die Wand und dachte einige Sekunden über die wirkungsvollsten und am wenigsten ermüdenden Lösungen nach. Joran hatte ihr nicht beigebracht, mit dem Bogen zu schießen, aber sie konnte perfekt zielen. Selbst auf diese Entfernung konnte sie einen fünf Fuß breiten Balken mit der Armbrust treffen. Die auf ihren Wunsch hin erscheinende Armbrust legte sie sich auf die Knie und setzte das Herbeizaubern sogleich mit einem speziellen Bolzen fort: Sehr nahe an der Spitze war ein Seil befestigt, von dem drei bleibeschwerte Stränge ausgingen.
Elea hatte absichtlich ein langes Seil erbeten, da sie schon an ihren Abstieg gedacht hatte. Aber nun hatte sie das Gefühl, unter den Handschuhen Tausende von Schnitten zu haben, und spürte das Brennen des Hanfflechtens zwischen den Fingern. Sie barg die Hände unter den verschränkten Armen und wartete ab, bis der Preis für das, was sie verlangt hatte, bezahlt war.
Über eine halbe Stunde später konnte Elea wieder aufstehen. Sie achtete darauf, in diesem entscheidenden Moment nicht zu wanken oder das Gleichgewicht auf dem Endstück des Schwibbogens zu verlieren, zielte mit der Waffe auf die Kragsteine und schoss. Ein kleines Knacken war zu hören, ein dumpfer Klang, als Steine getroffen wurden, antwortete ihm; dann übernahm wieder die Stille die Herrschaft über die Nacht.
Elea blieb noch einen Moment reglos stehen. Joran und die Wachen hatten sie nicht hören können, aber sie befürchtete, dass sich womöglich weitere Personen in der Umgebung aufhielten. Als sie sich vergewissert hatte, dass alles ruhig war, hängte sie sich die Armbrust auf den Rücken und packte das Seil, das sich wie erwartet straffte: Die drei bleibeschwerten Stränge hatten sich fest um einen Holzbalken geschlungen.
Indem sie sich mit den Armen hochzog und mit den Füßen nachschob, kletterte Elea bis zum ersten Fenster. Sie stützte sich leicht auf das steinerne Fensterbrett und legte dann einen Zwischenhalt auf der nächsthöheren Querstrebe ein. Der Aufstieg war nach einem solchen Tag und dem, was sie von ihrem Füllhorn verlangt hatte, anstrengend. Trotz ihrer Handschuhe tat das Seil ihr weh, und darüber hinaus hatte sie das Gefühl, sich die Arme auszurenken.
Noch einmal anstrengen! Es dauert nicht mehr lange!, sagte sie sich wieder und wieder, um sich selbst Mut zuzusprechen.
Sie brach wieder auf. Unter Mühen gelang es ihr, das folgende Fenster zu erreichen. Erschöpft klammerte sie sich ans Fensterbrett und setzte sich dann darauf, da das Zimmer dahinter im Dunkeln lag. Sie schöpfte Atem, stand vor den bleigefassten Fensterscheiben auf und ergriff zum letzten Mal ihr Seil.
Aber plötzlich hörte sie ein Geräusch in diesem Stockwerk. Sie hatte gerade noch Zeit, sich zur Seite ins Leere zu schwingen, bevor das
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