Die rechte Hand Gottes
fontaine vor sich hin.
Wieder einmal verstrich die Zeit überraschend schnell und wurde lediglich von den in regelmäßigen Abständen zustechenden Mücken unterbrochen.
Es war finstere Nacht, als er nach Hause zurückkehrte. Er schlich dicht an den Hauswänden entlang, darauf bedacht, ja nicht der Wachpatrouille über den Weg zu laufen, die sich sicherlich darüber gewundert hätte, daß er zu so später Stunde noch auf der Straße war.
» Mein Gott, was habe ich bloß getan!!! « jammerte er angesichts der Schwere der begangenen Verfehlung. » Ich bin also nichts weiter als ein erbärmlicher zügelloser Mensch, ein abscheulicher Lüstling, der die erstbeste Gelegenheit zur Ausschweifung nutzt.«
Das, was sich am Ufer des Flusses zugetragen hatte, war eine Todsünde. Nun aber war, im Gegensatz zu einer läßlichen Sünde, der Urheber einer Todsünde automatisch zur Hölle verdammt. Und was noch schlimmer war, diesen Nachmittag mußte er, wie jeden Samstag, zur Beichte in das Kloster des Ordens gehen. Der Gedanke, seinen Patenonkel zu belügen, stimmte ihn traurig, aber er sah keine andere Möglichkeit. Es hieß lügen (indem er etwas wegließ) oder alles bekennen und die vom Gesetz vorgesehenen Konsequenzen zu spüren bekommen, das Ausschweifung mit Kastration bestrafte, gefolgt von einem reinigenden Verbrennen auf dem Scheiterhaufen.
Als Éponine ihn an diesem Morgen wachrüttelte, damit er
Holz holen ging, war sein Blick glasig; er brabbelte ein paar unzusammenhängende Worte und schlief wieder ein.
»Vielleicht ist er ja krank? « meinte Martin beunruhigt und ging zu ihm hinüber.
»Ich fürchte, es ist schlimmer. Da, riech doch mal an ihm...«
Der alte Seemann beugte sich über ihn und schnupperte an dem halboffenen Mund des jungen.
» Man könnte meinen, er hat ein oder zwei Becher Rebensaft getrunken.«
»Du weißt genausogut wie ich, daß er niemals trinkt! Irgend jemand muß ihn dazu verleitet haben, aber wer? Er trifft sich doch mit niemandem.«
Eponine hatte niemals vergessen, daß Justinien an dem Abend , als Abbé Melchior ihn zu ihnen gebracht hatte, völlig betrunken gewesen war, und sie hatte immer befürchtet, daß dieser Vorfall ihn besonders anfällig für die Trunksucht gemacht hätte.
» Er muß mit den Gauklern von neulich angestoßen haben. Ich habe gesehen, wie er der Tarantella-Tänzerin, einem wirklich hübschen Frauenzimmer, begehrliche Blicke zuwarf. Was willst du, Éponine, er ist ein junger Mann, und es ist Frühling.«
»Da vertust du dich, mein Freund, er ist doch noch ein grüner Bengel! Dem sprießt ja noch nicht einmal der Bart.«
» Reg dich nicht auf, mein Liebchen, er ist kein Mädchen, sondern ein Mann, du kennst doch sicher auch das Sprichwort: >Ich lasse den Hahn hinaus, gebt auf eure Hennen acht.< Am Montag werden sie sowieso weiterziehen ... Also, laß ihn schlafen, und ich werde dir dein Holz holen.«
Justinien wachte erst nach zwölf Uhr auf, als Éponine und Martin schon am Mittagstisch saßen.
»Mach schnell und setz dich zu uns, mein Junge, wenn du noch etwas von diesem Hammelragout haben möchtest«, meinte Martin.
Er gehorchte, wich aber den prüfenden Blicken seiner Ziehmutter aus.
» Ich möchte euch um Entschuldigung bitten, ich bin einfach nicht wach geworden.«
Er war ihnen dankbar, daß sie ihn nicht mit Fragen überhäuften, und aß mit gesundem Appetit. Er zählte schon jetzt die Stunden bis Sonnenuntergang.
Als es Zeit war, zur Beichte zu gehen, war er derart nervös, daß er den ganzen Weg bis zum Kloster an seiner Nase herumspielte. Er war fest davon überzeugt, daß der Großwächter ihn sogleich durchschauen würde.
Er log sehr schlecht und wiederholte Wort für Wort die Beichte, die er in der letzten Woche abgelegt hatte, aber der Abbé war zerstreut und bemerkte nichts. Er erteilte ihm die Absolution, nachdem er ihm zehn Vaterunser und ebenso viele Ave Maria und Reuegebete auferlegt hatte.
»Weiß Gott alles, was geschieht? Ich meine: auch das, was in Roumégoux passiert?«
»Gott weiß, was im gesamten Universum geschieht, kleiner Ignorant.«
»Gott kann also hier in diesem Beichtstuhl und zugleich auf dem Place du Ratoulet und an den Ufern des Flusses sein?«
» Gewissermaßen ja. Hör mal, Justinien, wir sind hier nicht im Religionsunterricht, es warten noch andere Sünder auf ihre Absolution. Komm nach dem Vespergottesdienst zu mir, dann werde ich dir die Allgegenwart Gottes erklären ... «
Justinien hatte
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