Die reinen Herzens sind
am Hals, ganz zu schweigen davon, was die Krankenhausverwaltung mit mir macht. Vermutlich krieg ich in dieser Stadt nie wieder einen Job.«
»Ich verklage niemanden, Darlene. Lourdes Rodriguez steht auf einem anderen Blatt. Die Babys waren also unbeaufsichtigt?«
»Möglicherweise. Chris und ein paar Teilzeitkräfte haben mir geholfen. Bei Marie sah es genauso aus. Vielleicht war eine der Teilzeitschwestern auf der Station.«
Decker nickte bedächtig. »Kennen Sie eine Schwester namens Tandy Roberts?« fragte er unvermittelt.
»Tandy? Hat Tandy etwas mit der Sache zu tun?«
»Sie kennen Tandy?«
»Nicht gut, aber ich kenne sie. Sie war mal eng mit Marie befreundet. Dann haben sie sich irgendwie entzweit. Arme Marie. Sie war sehr verletzt damals. Aber sie hat nicht viel gesagt. Trotzdem war’s ihr anzumerken.«
»Haben Sie Tandy zufällig in der Nacht der Entführung im Krankenhaus gesehen?«
»Nein. Warum?«
»Keine Ahnung. Ich greife nach jedem Strohhalm. Es ist schwer vorstellbar, daß Marie ganz allein Lily ermordet und das Baby entführt haben soll. Immer vorausgesetzt, daß Lily die Tote aus dem Honda ist. Ich muß annehmen, daß Marie Komplizen hatte. Und diese Tandy Roberts ist früher mit Marie eng befreundet gewesen.«
»Ich habe Tandy bestimmt zwei Jahre nicht gesehen.«
»Und Sie sind sicher, daß sie in jener Nacht nicht im Krankenhaus war?«
»Nicht hundertprozentig. Aber Tandy wäre kaum zu übersehen gewesen.«
»Hat sie je in diesem Krankenhaus gearbeitet?« fragte Decker.
»Marie hatte ihr einen Teilzeitjob verschafft. Aber Tandy blieb nur ein paar Monate. Ich hielt sie für ziemlich dumm. Aber Marie war ganz begeistert von ihr, hatte ja immer viel übrig für Underdogs. Bei Tandy war’s besonders schlimm. Sie hat sich benommen, als sei sie ihre Tochter oder so.«
Ihre Tochter – eine seltsame Wortwahl. Decker überlegte kurz. Tandy war ungefähr fünfundzwanzig. Marie war vierzig. Paula hatte behauptet, Marie habe mit zwanzig ein Kind erwartet. Aber vielleicht täuschte sie sich. Möglicherweise hatte Marie schon mit fünfzehn ein Kind bekommen und es zur Adoption freigegeben. Vielleicht war Tandy dieses Kind, dieses »verlorene« Kind.
Ein Netz mit vielen Löchern, dachte Decker. Lita Bellson hätte Maries Schwangerschaft bemerken müssen. Und die alte Lady hatte Marge eindeutig gesagt, daß Marie nie ein Baby, nur Abtreibungen gehabt habe.
Aber vielleicht war die alte Dame senil?
Decker verschob die Überlegungen auf später.
»Ich habe die Krankenhausverwaltung nach Tandy befragt«, fuhr Decker fort, »und habe die Auskunft erhalten, daß sie nicht in den Personalakten steht. Hätte das nicht der Fall sein müssen, wenn sie einmal im Krankenhaus gearbeitet hat?«
»Sie ist von der Personalliste gestrichen worden, weil es Probleme mit ihrer Lizenz gab. Marie hat mir allerdings erzählt, daß sie das bereinigen konnte.«
»Schwierigkeiten? Welcher Art?«
»Angeblich ein Schreibfehler. Hat jedenfalls Marie behauptet. Aber ich glaube, sie hat Tandy nur gedeckt. Meiner Meinung nach, war sie keine staatlich geprüfte Krankenschwester.«
»Sie war keine Krankenschwester?«
»Doch, aber nur eine Hilfsschwester.«
»Wo liegt da der Unterschied?« wollte Decker wissen.
»Die staatlich geprüften Schwestern haben eine längere Ausbildung und legen eine Staatsprüfung ab. In der Praxis sind wir begehrter und verdienen auch mehr Geld. Allerdings hatte ich nie das Gefühl, daß Tandy es aufs Geld abgesehen hatte. Aber das Ansehen, das Prestige, das war ihr wichtig. Dicke Leute brauchen das. Auch Tandy wollte wichtig, wollte jemand sein. Aber trotzdem hatte sie kein Recht auf die Berufsbezeichnung, weder moralisch noch vor dem Gesetz.«
Decker nickte zustimmend.
»Marie hat behauptet, die Gerüchte seien Unsinn, Tandy sei selbstverständlich eine staatlich geprüfte Krankenschwester. Sie hatte wirklich einen Narren an Tandy gefressen. Die Benachteiligten und Unterdrückten hatten’s ihr schon immer angetan.«
»Die Unterdrückten? Benachteiligten?«
»Na, Tandy war nicht unbedingt ein Nervenbündel, aber unglaublich schüchtern und verstört.« Darlene hielt inne. »Einmal habe ich sie erwischt, wie sie sich in einem der Wandschränke versteckt und geweint hat. Als ich sie gefragt habe, was denn los sei, hat sie gesagt ›sie‹ seien wieder ›gemein‹ zu ihr.«
»Wer war gemein zu ihr?«
»Hat sie nicht gesagt. Ich habe angenommen, daß sie damit ihre Eltern gemeint hat.
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