Die reinen Herzens sind
schlug sofort die Augen auf, als sie das Klopfen an der Tür hörte. »Ja bitte?«
»Ich bin’s. Dad.«
»Oh, Sekunde. Komm rein.«
Decker trat ein. »Entschuldige die Störung.«
»Ich war schon wach. Was machen die Ermittlungen?«
»Wir wissen noch nichts Genaues, aber das Baby scheint nicht im Autowrack gewesen zu sein.«
»Dem Himmel sei Dank!«
Decker setzte sich auf die Bettkante. Er zückte sein Notizbuch. »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Dann kannst du weiterschlafen.«
»Ich bin ausgeschlafen.«
»Kannst du mir Marie Bellson beschreiben?«
»Aber du kennst sie doch, Daddy!«
»Ich möchte deine Beschreibung haben, Prinzessin.«
»Also, sie ist groß und hager. Ihr Gesicht länglich und die Haut wirkt ein bißchen zerknittert. Allerdings nicht von der Sonne. Sie ist eher blaß.«
Decker nickte. »Weiter.«
»Normal große Nase … ernster Blick … strenger Ausdruck.«
Decker lächelte. »Hat Marie Make-up getragen?«
Cindy dachte nach. »Vielleicht etwas Rouge und Lippenstift.«
»Sonst noch was?«
»Du meinst Nagellack?«
»Trug sie Nagellack?«
»Ich glaube nicht.« Cindy schüttelte den Kopf. »Nein, ihre Nägel waren kurz geschnitten und unlackiert. Alles ganz praktisch und zweckmäßig, bis auf den Ring.«
Volltreffer, dachte Decker. »Sie hat Ringe getragen?«
»Einen, nur einen Ring. An der linken Hand. Wenn sie nervös oder aufgeregt war, hat sie damit gespielt.«
»Damit gespielt?«
»Ja, sie hat ihn ständig abgezogen und wieder angesteckt. Sie hat knochige Finger.«
»Wie sieht dieser Ring aus?«
Cindy zögerte einen Moment. »Wie ein altmodischer Schul- oder Collegering.«
»Weißt du noch, was für einen Stein er hat?«
»Einen runden. Er war nicht wie üblich geschliffen, sondern einfach halbrund. Es gibt einen Ausdruck dafür.«
»Cabochon.«
»Genau. Richtig.« Cindy musterte ihren Vater. »Habt ihr den Ring im Autowrack gefunden?«
»Wir haben einen größeren Goldklumpen mit einem Stein entdeckt, der ein Schmuckstück gewesen sein könnte, vielleicht sogar ein Ring. Das Gold war geschmolzen. Aber deine Beobachtungen sind interessant. Vielen Dank.«
»Hat Marge herausbekommen, wer diese Sondra Roberts ist?«
»Noch nicht.«
»Hat sie’s bei den Anonymen Dicken versucht?«
»Sie wartet auf deren Rückruf.«
»Was ist mit den Anonymen Alkoholikern?«
»Was soll damit sein?«
»Könnte wegen Sondra Roberts interessant sein. Habt ihr die Organisation nicht auch angerufen?«
»Weshalb sollten wir uns bei den Anonymen Alkoholikern nach ihr erkundigen?« fragte Decker verdutzt.
»Weil suchtanfällige Leute gelegentlich mehr als nur eine Sucht haben. Eines dieser Programme funktioniert wie das andere. Und gelegentlich nehmen Süchtige an mehreren Therapien teil.«
»Woher weißt du das denn?«
»Ich habe Psychologie belegt. Das viele Geld, das du für mich ausgibst, ist nicht ganz zum Fenster rausgeworfen, Dad.«
Decker verdrehte die Augen. »Na, dann erzähl mir mal von deinen Psychologie-Vorlesungen.«
»Du meinst, was ich über das Persönlichkeitsprofil von Süchtigen gehört habe? Die Theorie besagt, daß mit einer Sucht persönliche Probleme, Enttäuschungen et cetera übertüncht werden sollen. Suchtverhalten ist eine Ersatzhandlung. Daher ersetzen Süchtige oft eine Sucht durch eine andere. Alkohol mit Drogen, Sex oder Freßsucht. Falls Sondra Roberts zur Freßsucht neigte, könnte sie diese durch exzessiven Alkoholgenuß ersetzt haben. Oder Alkoholsucht durch ein ausschweifendes Sexualleben. Wäre theoretisch möglich, daß sie an gut einem Dutzend Therapien teilgenommen hat.«
Cindy reckte sich.
»Ist vermutlich am einfachsten, mit den Anonymen Alkoholikern anzufangen. Wenn du willst, rufe ich dort an.«
Decker strich seinen Schnurrbart glatt. »Das laß mal Marge machen, Cindy. Das ist Sache der Polizei.«
»Wie du meinst, Dad.« Cindy wirkte zerknirscht.
»Trotzdem danke, Cindy.«
»Keine Ursache, Dad.«
Decker musterte seine Tochter, stand auf und umarmte sie herzlich. Er vertraute ihr wie eh und je. Und er hoffte inständig, daß sein Vertrauen auch diesmal gerechtfertigt war.
Decker brauchte fast zwanzig Minuten, bis er die Sicherheitskontrollen des Krankenhauses durchlaufen hatte. Es war zwar ein bißchen spät für den Aufwand, aber die Verwaltung hatte wohl das Image des Krankenhauses fürs Fernsehen im Auge. Auf diese Weise mußte jeder den Eindruck haben, als habe der Kidnapper eine Festung überwinden müssen.
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