Die reinen Herzens sind
Kätzchen in Maries Schlafzimmer. Ihr Vermächtnis. In Deckers Stall hatte es ein neues Zuhause gefunden. Meecham drückte seine Zigarette aus.
»Der langen Rede kurzer Sinn«, fuhr der Arzt fort. »Sie war eine Frau, die plötzlich ihre Jugend dahinschwinden sah. Vierzig ist heutzutage kein Alter. Eine solche Erfahrung muß sich auf emotionaler Ebene auswirken.«
»Das wirft ein völlig neues Licht auf den Fall. Alle, mit denen ich bisher gesprochen habe, haben behauptet, Marie sei wie immer gewesen.«
»Wie ich schon sagte. Bei der Arbeit funktionierte sie problemlos.«
»Vielleicht auch nicht«, warf Decker ein.
»Ich kann nicht glauben, daß sie einen Säugling entführt haben soll, Sergeant. Natürlich weiß ich, was Hormonstörungen bewirken können, sogar bei intelligenten Frauen. Aber daß Marie einem Baby etwas antun könnte, halte ich für ausgeschlossen.«
»Wer sagt, daß sie jemandem etwas angetan hat?«
»Sie hat das Baby entführt. Bitte jetzt keine Haarspalterei.« Meecham griff nach der nächsten Zigarette. »Sie sagen, Sie haben Maries Leiche gefunden. Ich bin kein Kriminaler, aber für mich ist da was faul. Jemand muß Marie gezwungen haben, dieses Kind zu entführen.«
»Möglich«, sagte Decker.
»Von dem Baby haben Sie gar nichts erzählt.«
»Das haben wir auch noch nicht gefunden.«
»Sehen Sie? Das bestätigt doch meine Theorie. Marie ist tot. Das Baby bleibt verschwunden. Jemand muß Marie umgebracht haben und mit dem Säugling geflohen sein.«
»Wenn die Leiche die sterblichen Überreste von Marie sind, ja. Dann sieht alles danach aus.«
»Was soll das heißen, ›Wenn die Leiche …‹?«
»Eine eindeutige Identifizierung steht noch aus.«
Meechams Blick wurde hart. »Sie lassen mich über eine meiner Patientinnen reden, als sei sie tot, und jetzt erzählen Sie mir, daß sie möglicherweise noch lebt?«
»Doktor, ich habe nie behauptet, daß die Leiche eindeutig …«
»Sergeant, wie konnten Sie nur? Ist Ihnen klar, daß Sie mich dazu verleitet haben, gegen meine Schweigepflicht zu verstoßen?«
»Dr. Meecham, ich suche einen drei Tage alten Säugling. Ich brauche jede Information, die ich kriegen kann. Egal, wie. Falls Sie sich getäuscht fühlen, tut es mir leid. Schon mal daran gedacht, womit das kleine unschuldige Wesen das verdient hat?«
Meecham seufzte und rieb sich die Augen. Decker beugte sich über den Schreibtisch und klopfte ihm auf die Schulter. »Danke.«
»Schon gut.«
»Seien Sie nicht so streng mit sich, Stan. Sie haben geholfen. Niemandem geschadet. Ist das nicht die Quintessenz der ärztlichen Ethik?«
Meecham brach seine Zigarette in der Hälfte durch und schüttelte den Kopf. »Das hab ich irgendwo schon mal gehört.«
Annie Hennon hängte die Röntgenbilder nebeneinander vor den Leuchtschirm und studierte die Negative eingehend. In diesem Moment wurde Decker klar, daß man kein Experte sein mußte, um festzustellen, was nicht übereinstimmte.
Trotzdem sagte er nichts, beobachtete Annie, wie sie Zahnnummern in ein Diktaphon sprach, und wartete geduldig auf ihre Diagnose. Marge sagte ebenfalls kein Wort. Zwanzig Minuten vergingen.
»Handelt sich nicht um dieselbe Person«, sagte Annie schließlich, den Blick unverwandt auf die Röntgenaufnahmen gerichtet. »Es besteht nicht mal eine oberflächliche Ähnlichkeit. Die Zähne der Leiche sind wesentlich größer, dichter, was Zahnschmelz und Zahnbein betrifft. Und die Wurzeln sind länger. Mit den Aufnahmen von Maries Gebiß stimmt praktisch nichts überein. Da uns Maries Bilder vom Arzt persönlich in einem versiegelten Umschlag übergeben wurden, ist ein Irrtum ausgeschlossen.«
»Das einzige, was wir bis jetzt sicher wissen, ist, daß Marie nicht die Leiche im Wagen ist«, erklärte Marge.
»Aber wer ist es dann?« fragte Decker.
Annie knipste den Leuchtschirm aus. »Eine Frau mit vierschrötigem Knochengerüst. Annähernd einen Meter achtzig groß. Der Anthropologe ist der Meinung, daß die Frau vermutlich kräftig gebaut war. Also nicht nur groß, sondern auch schwer. Und sie war vermutlich eine Schwarze.«
»Eine Farbige?« wiederholte Marge.
»Ja.« Annie setzte sich. »Wetten, der Anthropologe sagt Ihnen dasselbe? Natürlich nennt er dafür andere Gründe. Ich stütze meine Vermutung auf die Zähne. Unterschiedliche ethnische Gruppen haben unterschiedliche Merkmale, auch was das Gebiß betrifft. Narrensicher ist das allerdings nicht. Aber mit der Erfahrung ergibt sich ein gewisses
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