Die Reise ins Licht
Abzweigungen. Zu ihren Füßen huschte eine fette Ratte vorbei. Durch den Spalt einer angelehnten Tür weiter vorn drang Tageslicht hindurch.
Gleb wurde plötzlich mulmig zumute. »Gehen wir an die Oberfläche?«
Taran öffnete die zerkratzte Tür ein wenig und warf einen prüfenden Blick hinaus. Dann betrat er den Hof des Krankenhauses. Wie gestern stand der Junge an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Diesmal jedoch zögerte er, die Schwelle zu überschreiten und die gewohnte Welt des Dämmerlichts zu verlassen.
»Komm, Junge. Die Zeit ist knapp. Du musst alles im Gehen lernen.«
Gleb machte einige schwerfällige Schritte und blinzelte im hellen Licht. Tränen schossen ihm in die Augen. Er hob den Kopf und fiel ächzend auf alle vier. Es war keine Zimmerdecke mehr da. Sie war auch nicht irgendwo weit oben, wie ihm seine Einbildung unsicher vorgaukelte – nein, sie war einfach verschwunden. Der unendliche, von grauen Regenwolken durchzogene Himmel ließ den Jungen erstarren. Mit beiden Händen wollte er sich in der Erde festklammern, sich an sie drücken, um nicht in diesem graublauen Nichts zu verschwinden.
»Steh auf!« Der Stalker war auf einmal extrem reizbar und angespannt. »Gewöhn dich dran. Los jetzt!«
Gleb stürzte taumelnd der mächtigen Gestalt des Stalkers hinterher. Ihn schwindelte fürchterlich. In seiner Kehle stieg Übelkeit auf. Er stolperte, fiel mitten in das faulige Herbstlaub. Wieder drehte sich der Stalker um, jedoch nur kurz, dann trabte er weiter. Gleb rückte die Atemmaske zurecht und rannte ihm nach. Eins, zwei, eins, zwei … Er konzentrierte sich auf die Bewegung seiner Beine, was ihn allmählich beruhigte. Die Erde hörte auf zu schwanken, und er sah sie nicht mehr doppelt.
»Schau dich um! Gib acht!« Taran beschleunigte seine Schritte.
Gleb war das schnelle Laufen nicht gewohnt und schaffte es kaum, mit dem Stalker Schritt zu halten. Sie liefen an riesigen Häusern entlang mit grauen, schartigen Wänden. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein großer, unbebauter Platz, der kreuz und quer umgegraben war und einem Kuchenblech mit Haferflockenteig ähnelte. Jenseits des Platzes begannen erneut Häuser.
»Was ist das für ein Ort?«
»Mach die Augen auf, Junge. Du kannst doch lesen.«
Tatsächlich: An der Hauswand zur Linken war ein verstaubtes Schild zu erkennen, auf dem zu lesen stand: »Prosp. Ju. Gagarina« – der Gagarin-Prospekt.
»Und was ist mit der Erde?«
»Da waren die Maulwürfe am Werk. Vor der Katastrophe waren das ganz nette Tierchen. Aber jetzt sind sie groß geworden, meine Herren. Und ihr Appetit ist auch nicht von schlechten Eltern. Dieser Boulevard ist ihr Territorium. Gut, dass ihre Höhlen nicht so tief sind, sonst hätten sie die Metro längst aufgefressen.«
Gleb schielte vorsichtig zu den aufgeworfenen Erdschichten hinüber und rückte zur Sicherheit näher an die Häuser heran, so weit wie möglich von den enormen Höhlengängen entfernt.
Einige Häuserblocks hatten sie bereits hinter sich gelassen. Auf der anderen Seite der Straße, hinter einem Gitterzaun, begann ein wildes Dickicht aus seltsamen Bäumen, die sich dicht ineinander verschlungen hatten. Schräg rechts gegenüber war die Ruine eines riesigen runden Gebäudes zu sehen.
Gleb erinnerte sich an eine Zeichnung in einem alten Bilderbuch und sagte entzückt:
»Das Kolosseum.«
»Wie bitte, was denn für ein Kolosseum?« Die Stimme des Stalkers klang belustigt. »Das ist der Lenin-SKK. Na ja, der ›Sport- und Konzert-Komplex‹ eben. Dort hat es früher verschiedene Wettkämpfe gegeben.«
»Wie im Kolosseum?«
»Nun ja. Wie im Kolosseum. Bleib dicht hinter mir!«
Sie bogen nach links ab und gingen nun parallel zu dem Dschungel, wobei sie sich nah an den Häusern hielten. Aus der Richtung des ehemaligen Parks trug der Wind die langgezogenen Schreie von Tieren und das Kreischen unbekannter Vögel herüber. Gleb schaute sich nach allen Seiten um und rief dem Stalker zu: »Wohin gehen wir?«
»Zur Metrostation Park Pobedy .«
»Aber warum auf der Oberfläche? Von der Moskowskaja führt doch ein sauberer Tunnel dahin.«
»Junge, ich führe dich aus. Sieh lieber zu, dass du selbstständig wirst. Auf dem Marsch hab ich nämlich keine Zeit, dich zu bemuttern.«
Schließlich hörte das Dickicht zur Rechten abrupt auf. Hinter einigen Bäumen zeichnete sich undeutlich das flache Metro-Gebäude ab. Ein großes Stück des kantigen Baus fehlte, als hätte es ein Riese
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