Die Reise ins Licht
Grasstoppeln bedeckt war, stand ein einsamer Betonbogen. Entgegen dem gesunden Menschenverstand und den Gesetzen der Physik war er unversehrt geblieben.
»Das Einfahrtstor«, erklärte Taran. »Wenn wir nichts Geeigneteres finden, übernachten wir hier.«
Das Schicksal war ihnen jedoch wohlgesinnt. Im Vorbeigehen bemerkte Taran ein Schild und bog in die Kronschtadtskaja-Straße ein.
Kondor bemerkte: »Nach dem Kronstadter Platz nun die Kronstadter Straße. Ein gutes Zeichen.«
Die Stalker kamen am Bahnhof an. Offenbar war das Gebäude besser erhalten als die anderen. Obwohl in der oberen Etage riesige Löcher klafften und sogar ein Teil des
Daches fehlte, versprach das Gebäude ein annehmbarer Zufluchtsort für die kommende Nacht zu werden.
Nachdem sie sich umgesehen hatten, betraten die Kämpfer vorsichtig das Gebäude. Einige angespannte Minuten vergingen mit der Untersuchung der menschenleeren Räume. Es war nichts zu entdecken, abgesehen von einigen staubigen Kästen mit Knöpfen darauf im Keller.
»Vielleicht sollten wir weitergehen?« Kondor studierte die Karte. »Da vorn ist eine Art Hafen.«
»Im Dunkeln herumzustöbern kann uns teuer zu stehen kommen«, erwiderte Taran entschieden. »Wir übernachten hier.«
Während sich die Kämpfer einrichteten, zupfte Gleb Taran vorsichtig am Ärmel.
»Was ist das dort?«
»Einarmige Banditen.« Als Taran die Verwunderung auf dem Gesicht seines Schülers bemerkte, erklärte er: »Das sind Spielautomaten. Das war früher so ein Zeitvertreib. Ein Spiel um Geld. Würde jetzt zu lange dauern, dir das zu erklären.«
Gleb begriff beim besten Willen nicht, was mit diesen wirren Worten gemeint war. Wie konnte eine Eisenkiste ein Bandit sein? Und bei dem Ausdruck »Spielautomat« kamen ihm nur die hölzernen Schnellfeuergewehre in den Sinn, mit denen die Jungs an der Moskowskaja herumrannten, wenn sie Stalker spielten.
»Und was ist ›Geld‹ noch einmal?«
»Eine Art Patronen. Nur schießen konnte man damit nicht. Nur handeln.«
»Wer braucht denn solche Patronen?«
»Vor der Katastrophe – alle. Du kannst dir gar nicht vorstellen, Junge, wie sehr die Leute es brauchten. Aber danach verschwand es. Sofort. Eine Zeit lang waren verschiedene Konserven im Umlauf. An einigen Stationen wurde mit Wasser bezahlt. Anfangs war das ziemlich knapp … Im Grunde war es also Tauschhandel mit Naturalien. Ein Bartergeschäft.«
»Barter? Was ist das?«
»Schluss jetzt, Gleb, die Vorlesung ist zu Ende. Ich will schlafen.«
Während er über die Worte des Meisters nachdachte, bemerkte Gleb nicht gleich, dass Bruder Ischkari sich ihm genähert hatte. Das Gesicht des Sektierers strahlte Seelenruhe aus, doch seine Finger zupften ununterbrochen an seinem Leinenbeutel.
»Sei so freundlich und gib mir die Fotografie zurück, Jüngling«, wandte er sich an ihn.
Gleb kramte geschäftig in seiner Innentasche und holte das fleckige Bild hervor. Mit Bedauern blickte er das letzte Mal auf das majestätische Schiff, dann reichte der Junge die Aufnahme dem Sektierer.
»Danke, Gleb.« Ischkari entfernte sich und setzte sich zu Okun.
Der Kämpfer betrachtete mit lebhaftem Interesse das Bild. Sie unterhielten sich halblaut. Sosehr der Junge auch lauschte, er konnte den Gegenstand ihres Gesprächs nicht in Erfahrung bringen. Worüber konnte der Sektierer schon sprechen? Über die Arche, über »Exodus«, über ihre Errettung … All das hatte jeder von ihnen schon mehr als einmal zu hören bekommen. Gleb hielt noch eine Weile aus,
doch dann forderte die Müdigkeit ihren Tribut. Er machte es sich neben seinem Meister auf der kühlen Plane bequem und verfolgte im Halbschlaf, wie Kondor Befehle erteilte:
»Wachablösung ist alle zwei Stunden. Schaman und Ksiwa, ihr seid die Ersten. Dann weckt ihr mich. Taran, du bist mit Farid in einer Schicht. Dann Nata und Dym. Okun und Ischkari sind dann als Letzte dran. Und jetzt legt euch schlafen!«
Zuerst wurde ihm schwindlig. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er nahm einen Schluck Wasser aus der Feldflasche. Für einen Augenblick löschte die Feuchtigkeit, die seine Speiseröhre hinabrann, den Brand in seinem Inneren. Doch gleich darauf stieg eine scharfe Übelkeit seine Kehle hoch. Schweiß trat auf seiner Stirn hervor, lief ihm in die Augen und kondensierte in großen Tropfen an den Gläsern seiner Atemmaske. Ihm war übel.
Vor ihm bewegte sich etwas und verschwand am Ende des Kellers. Durch die beschlagenen Gläser konnte er nichts
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