Die Reise ins Licht
wenn die Karawanen der »Stummeln« zu ihrer Station kamen. Jetzt waren diese Bilder verschwommen und wirkten sehr weit entfernt. Vieles hatte sich in seinem Leben geändert, aber Gleb wünschte sich sehnlichst, dass die Veränderungen auch all jene betrafen, die nun im Untergrund warteten und auf einen erfolgreichen Ausgang ihrer Expedition hofften. Gleb versuchte sich vorzustellen, wie sie sich freuen würden – Onkel Nikanor, Palytsch und all die anderen, wenn sie erführen, dass … Im nächsten Augenblick jedoch stieß der Blick des Jungen auf etwas, was ihn auf der Stelle aus dem Reich der Träume zurückholte in die widerwärtigen Ruinen mitten in Kronstadt.
Auf einem kleinen, wackligen Tisch lag ein völlig unversehrter Porzellanteller, bemalt mit dem Panorama einer nächtlichen Stadt. Ein in helles Licht getauchter Hafen, umgeben von Häusern, die in Reih und Glied das Ufer zierten und deren Fenster gemütliches Licht verströmten.
Herrliche Schiffe lagen still in der Bucht. Unter der farbenfrohen Zeichnung stand mit schnörkelloser Schrift sorgfältig ein Wort geschrieben, ein einziges, und doch so wichtiges und beunruhigendes Wort: »Wladiwostok«.
Gleb stand reglos da, den Mund weit aufgesperrt. Es hatte ihm den Atem verschlagen, doch seine Lippen flüsterten wie von selbst: »Das Gelobte Land.«
Ischkari ließ sich neben ihm nieder und deutete mit zitternder Hand auf das Bild.
»Na, ihr Brüder im Geiste, habt ihr euer ›Paradies‹ gefunden? « Taran grinste spöttisch. »Komm, Schaman, wir überprüfen die Wohnung gegenüber. Farid, hast du dein Verbandszeug?«
Die Kämpfer gingen zum Ausgang. Für einen Augenblick waren der Junge und der Sektierer allein. Schweigsam betrachteten sie das Bild, konnten sich nicht sattsehen daran. Gleb wagte es nicht einmal zu seufzen, um die Stille nicht zu stören. Ischkari nickte dem Jungen zu und deutete mit den Augen auf den Teller. Gleb nahm vorsichtig den zerbrechlichen Gegenstand, zögerte einen Augenblick und reichte ihn dann Ischkari. Der Sektierer richtete seine dankbaren Augen auf den Jungen, zögerte aber, den wertvollen Fund entgegenzunehmen.
»Du hast das Gleiche erblickt wie ich. Ein Zeichen von oben. Wir sind auf dem rechten Weg.«
»Dies muss sicherlich ›Exodus‹ gehören?«
»Behalt es, Junge. In deiner Seele erkenne ich noch Zweifel, aber dieser Gegenstand wird deinen Glauben festigen. Dann vielleicht wirst auch du die Stadt unserer Träume betreten.«
Der Junge nickte, drückte den Teller behutsam an seine Brust, nahm dann seinen Rucksack ab, wickelte den Fund in seinen Pullover ein und packte ihn gut weg.
»Gleb, wir gehen!« Das war Tarans Stimme.
Sie liefen auf die Treppe hinaus und holten die Stalker ein. Der Junge lächelte: Vor seinem geistigen Auge stand immer noch das Bild der fernen Stadt. Er konnte einfach nicht begreifen, wie eine solche Schönheit verschwinden konnte. Nein. Irgendwo mussten noch unversehrte, von der Katastrophe nicht geschändete Gegenden existieren. Wenn es sie tatsächlich gab, so würde er sie finden. Unbedingt. Denn es war nicht recht für den Menschen, in der Feuchtigkeit des Untergrunds zu vergammeln, sich gegenseitig wegen der letzten Krümel Nahrung bis aufs Blut zu bekämpfen und sich nicht zu trauen, auch nur die Nase an die Oberfläche zu stecken. Sollte Taran ruhig glauben, dass nichts sonst unversehrt geblieben war – Gleb würde beweisen, dass sein Meister sich irrte. Dass sich all die irrten, die aufgehört hatten zu hoffen.
Er würde bis zum letzten Atemzug daran glauben – wie seine Eltern daran geglaubt hatten.
Die Stalker liefen in einer Reihe und bemühten sich, keinen Lärm zu machen. »Lenin-Prospekt« las der Junge auf einer Tafel an einer verwitterten Mauer. Hier hielt der Wegführer an und studierte die Karte. Gleb trat an seine Seite und versuchte einen Blick auf das abgenutzte Blatt in seinen Händen zu erhaschen.
»Wir sind jetzt hier, an der Besymjanny-Gasse«, erläuterte der Anführer und fuhr mit dem Finger die verblichenen Linien entlang. »Wir können zum Hafen gehen oder versuchen …«
Der Junge hörte nicht mehr zu. Ein seltsamer Widerschein am Boden fesselte seine Aufmerksamkeit. Gleb ging näher an den rätselhaften Fund heran, betrachtete ihn genauer, fuhr mit der Schuhsohle über die glatte Oberfläche und schob einen Haufen Blätter und nassen Sand zur Seite. Dann kniete er sich hin und befreite ein paar Quadratmeter Fläche mit seinen Händen. Er
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