Die Reise ins Licht
Öffnung war der Rand des Nachthimmels zu sehen, aber keine menschlichen Silhouetten bemerkbar. Seine Verfolger zögerten offenbar, ihm hinterherzukriechen. Vielleicht hatten sie ihn ja auch einfach aus dem Blick verloren. Doch für wie lange?
Am anderen Ende des Rohrs stieß er auf ein Gitter. Der Junge wollte schon auf das unerwartete Hindernis schießen, überlegte es sich dann aber doch anders. Vorsichtig steckte er deshalb sein Messer in den engen Spalt der Verankerung. Leise rasselnd gab das Gitter nach. Nur wenige Handgriffe später schlüpfte der Flüchtling aus dem Rohr und befand sich nun in einem engen Betonkanal, der oben mit Eisengittern bedeckt war. Die Gitter waren ebenerdig angebracht, woraus Gleb schloss, dass er sich im Abflusssystem einer Werkhalle befand. Durch die engen Ritzen war jedoch nichts zu erkennen.
Aus Richtung der Einfahrt zum Hangar waren unverständliche, abgehackte Worte zu hören. Gleb verhielt sich still. Schritte kamen unaufhaltsam näher. Einen Augenblick später blieb die Person direkt über ihm stehen. Der Schatten einer plumpen Gestalt fiel durch das Gitter. Gleb drückte den Griff seines Messers, dass seine Hand schmerzte, und traute sich nicht zu atmen. Sein Verfolger stank nach Alkohol und einem ungewaschenen Körper.
Das Gitter über seinem Kopf rasselte: Der Unbekannte hatte einen schweren Bootshaken auf das Blech gestellt. Von dessen spitzem Ende fielen Blutstropfen auf die Stiefel des Jungen. In der zähen Stille konnte er das heisere Atmen des Kannibalen hören. Das Messer in Glebs Hand zitterte, sein Körper versteifte sich in gespannter Erwartung, bereit, wie eine Feder loszuschnellen.
Die Stimmen von außen verstummten. Der Unbekannte stand noch etwas herum, dann drehte er sich um und ging fort. Eine Tür schlug zu. Der Junge wartete noch kurz ab, schob eine der gusseisernen Platten zur Seite und kletterte aus dem Graben. Die grauenhafte Einrichtung der riesigen Halle stach ihm sofort ins Auge: Eisenhaken hingen in langen Reihen, auf dem Boden waren Flecken einer graubraunen Substanz zu erkennen, und überall lagen menschliche Schädel herum. Auf einem Karren entdeckte er ein menschliches Bein, in kleine Stücke gehackt.
Beim Anblick dieses abscheulichen »Schlachthauses« wurde Gleb erneut übel. Er befürchtete, das Bewusstsein zu verlieren, versuchte nicht nach links und rechts zu schauen, stürzte das Hallenschiff entlang und lief hinaus ins Freie. Niemand verfolgte ihn. Auch die Leichen der Stalker waren verschwunden. Anscheinend gaben sich die Menschenfresser mit der Beute zufrieden, die sie hatten erlegen können.
Nachdem Gleb sich hier umgesehen hatte, tauchte er in das hohe Gras ein und bewegte sich kriechend weiter. Bis zu seinem Ziel war es nicht mehr weit – vielleicht fünfzig Meter. Irgendwo in der Ferne waren Rufe zu hören. Über den Ruinen der Stadt flackerte der Widerschein eines
Feuers. Offenbar veranstaltete dieser merkwürdige Stamm gerade ein spätes Abendessen. Als der Junge sich die Details dieser Mahlzeit vorstellte, schüttelte er sich vor Abscheu. Die jüngsten, erschütternden Erkenntnisse ließen seinen ganzen Körper erzittern, dass ihm sogar die Zähne klapperten. Gleb sammelte seine letzten Kräfte und kroch die wenigen Meter weiter durch das taufeuchte Gras. Nun brauchte er nur noch die kurze offene Strecke unmittelbar vor dem Leuchtturm zu bewältigen.
»Ich fürchte nicht die Finsternis in meiner Seele. Ich gehe zum Licht …«
Tief geduckt rannte er auf den Bogen des steinernen Eingangs zu und stieß mit stockendem Herzen gegen die alte Tür. Sie war offen! Der Junge warf einen letzten Blick auf die finsteren Hafengebäude und schlüpfte hinein.
17
DIE STIMME AUS DER VERGANGENHEIT
Nichts verwandelt einen Menschen so sehr wie sein Selbsterhaltungstrieb. Sobald dieser seine Wirkung entfaltet, treten moralische Werte in den Hintergrund. Ihn zu unterdrücken ist äußerst schwer, ihn loszuwerden völlig unmöglich. Er ist von Natur aus im Menschen angelegt – nur einer von vielen Abwehrmechanismen neben dem Immunsystem, dem Husten, den Tränen … An sich eine einfache Sache, wie es scheint, und doch entsprechen jene seltenen Fälle, da sich dieser Instinkt in uns regt, meist nicht unserer Auffassung von Tapferkeit, Geistesstärke, Moral und anderen ähnlich vergänglichen Werten.
Fürchtet der Mensch den Selbsterhaltungstrieb etwa, weil er darin ebenjene niederen Bedürfnisse und Laster zutage treten sieht, vor denen
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