Die Reise ins Licht
suchen?
Gleb blickte schwermütig auf den Horizont. Vor dem Hintergrund des dunkelblauen, dämmrigen Himmels konnte er die flachen Gebäude der Stadt erahnen. Er seufzte tief und blickte zur Spitze des Turms hinauf. Den zerborstenen Reflektoren nach zu urteilen, war der Scheinwerfer des Leuchtturms schon lange außer Betrieb und würde wohl kaum jemals wieder funktionieren. Dafür brach aus einem massiven Dreifuß, der ganz in der Nähe auf der Plattform aufgestellt war, ein gleißender Lichtstrahl hervor. Das musste der Signalscheinwerfer sein, den Taran erwähnt hatte. Die Mitteilung hatte also ihren Adressaten erreicht. Dieser war nun sogar vor Ort. Nur die Absender waren nirgends zu sehen. Irgendwie passte das alles nicht
zusammen: die halbwilden Kannibalen und der Scheinwerfer auf dem Leuchtturm. Beim besten Willen nicht.
Vor lauter Rätseln dröhnte ihm der Kopf. Der Junge kletterte in den Raum mit den Akkumulatoren zurück, sah sich um und zog, ohne lange nachzudenken, mit aller Kraft an dem Kabel. Die Leitung wurde unterbrochen, das Licht erlosch. Nun würde sich die rätselhafte »Kontaktperson« einfinden, wer auch immer sie war.
Der Junge lud seine Pernatsch durch, setzte sich an die Wand, legte die Pistole sorgsam neben sich auf den staubigen Beton und machte sich auf ein langes Warten gefasst. In seinem Kopf war kein einziger Gedanke mehr, nur Gleichgültigkeit und eine Art übermütiger Entrücktheit. Sollte kommen, was wollte. Für eine Reise nach Hause hatte er weder die Kraft noch die Erfahrung noch genügend Vorräte. Warum also sollte er das Unausweichliche hinauszögern? Schon bald drang die Kälte der Wand an seinen Körper. Als er sich vorbeugte, spürte der Junge, wie sich etwas Hartes in seinen Bauch bohrte. Das Tagebuch.
Umständlich machte er seinen Schutzanzug auf, zog das Tagebuch heraus und begann es mit klammen, zitternden Fingern durchzublättern. In all der Aufregung hatte er seinen Fund völlig vergessen und wusste daher immer noch nicht, wie die Geschichte der Gefangenen in dem Atombunker zu Ende gegangen war. Doch nun hatte er ja Zeit im Überfluss. Das matte Licht seiner Lampe fiel auf die vergilbten Seiten.
»Die Zeit verging. Dann tauchte der Offizier wieder auf. Er sagte, dass sie Leute bräuchten, um den Tunnel zur Oberfläche schneller
fertig zu graben. Jedem, der sich freiwillig meldete, versprach er einen Wohnplatz im Objekt. An Interessenten gab es keinen Mangel. Petja ging gleich mit den Ersten mit. Er versuchte mich auch zu überreden, aber ich … hatte plötzlich Angst bekommen. Der Offizier kam mir nervös vor … Er hatte Schweiß auf der Stirn, und seine Finger zitterten … Wenn er sprach, sah er uns nie an. Jedenfalls traute ich ihm nicht. Hatte ein ungutes Gefühl dabei. Ich bin also nicht mitgegangen. Hab die ganze Zeit dagelegen und auf etwas gehofft. Ich wollte abwarten, bis der Tunnel fertig war.
Meine Uhr ging zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Die Zeit vergeht anders ohne Uhr. Mittag, Mitternacht, ein Monat, ein Jahr – was macht das für einen Unterschied? Wenn du in einer Gruft lebst, achtest du auf solche Kleinigkeiten nicht mehr. Ich hab mich an der Essensausgabe orientiert. Wir bekamen jetzt nur noch zwei Rationen: morgens und abends. Halbpension, meinte der Alte, der mit uns Tschapajew geklopft hatte.
Seit Petja ins Objekt gegangen war, waren einige Tage vergangen. Und dann hab ich mich beim Abendessen an etwas Merkwürdigem verschluckt. Es war hart, aber kein Knochen. Ich hab es mir bei Licht näher angeschaut: Es war der Fingernagel von Petja. Mit nichts auf dieser Welt hätte ich ihn verwechselt. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er mit diesem Fingernagel in seinen Zähnen herumpult.
Ich hab noch an Ort und Stelle alles wieder rausgekotzt. Das also waren die tollen Vorräte aus dem Bunker! Ich hab aber zu niemandem was gesagt, sondern bin in meine Ecke gegangen und hab nachgedacht. Hätte ich das mit dem Fraß der Militärs an die große Glocke gehängt, hätte es sicher einen Aufstand gegeben, und sie hätten alle auf einmal umgelegt. Nein. Ich musste anders vorgehen. Ich bekam es damals so sehr mit der Angst zu tun, dass ich zu zittern
begann. Das Hirn hab ich mir zermartert, wie ich es anstelle, nicht unters Messer zu kommen. Und da kam mir eine Idee.
Als sie das nächste Mal Freiwillige für die Erdarbeiten suchten, habe ich mich zusammen mit zwei anderen gemeldet. Sie führten uns nach unten ins Objekt. Wie ich so
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