Die Reise Nach Helsinki
Jetzt, wo wir beide
zusammen sind, ist es noch viel stärker.« Lina rutschte unter die
Bettdecke und rollte sich zusammen. »Manchmal denke ich, die Tür
geht auf, und er kommt herein, ich kann es eigentlich nicht
glauben, dass er tot ist.«
»So geht es mir auch«, sagte Anna,
»wahrscheinlich ist das so, wenn es so plötzlich kommt. Hat er mit
dir eigentlich mal über seine andere Tochter gesprochen, über diese
Riikka?«
»Nein, niemals. Manchmal, wenn er
getrunken hatte und traurig war, sagte er, dass es das Schlimmste
wäre, ein Kind zu verlieren, aber wenn ich ihn gefragt habe, wie er
darauf kommt, ist er ausgewichen. Du weißt ja, wie er war, wenn er
nicht wollte, bekam man nichts aus ihm heraus. Obwohl wir so nahe
zusammen waren, hatte ich doch immer das Gefühl, dass er voller
Rätsel steckte.«
»Das ist mir auch nie anders
gegangen«, lispelte Anna, »und wir sehen ja, wie viele Rätsel vor
uns liegen. Ein Kind, von dem er niemandem erzählt hat, dazu gehört
ja auch noch eine Mutter. Und jemand, der ihn entsetzlich gehasst
haben muss. Ich darf gar nicht richtig drüber nachdenken, was uns
erwartet, da wird mir ganz schön komisch.«
Lina streckte ihre Hand aus, und
Anna ergriff sie im Halbschlaf, im Hafen tutete dumpf eine
Schiffssirene. Tropfen fielen aus Pekkas Augen und legten eine
goldene Spur um das Bett.
Bad Neuenahr, den 10. Juni
1912
Heute wirst du das Schiff besteigen,
das dich nach Norden bringen wird, meine Anna, in seine Heimat,
nach der er all die Jahre solche Sehnsucht hatte. Aber ich bin
trotz des entsetzlichen Endes doch froh, dass er bei uns in
Deutschland gelebt hat und wir an seiner Energie und Lebensfreude
teilhaben durften.
Das Haus war plötzlich wieder voller
Leben, als er damals zu uns gekommen war, das Geschäft blühte auf.
Emma und ich waren ja wie gelähmt gewesen, als unsere Eltern so
plötzlich starben und offenbar wurde, welchen Scherbenhaufen Vater
uns hinterlassen hatte. Pekka brachte etwas ganz Neues hinein,
seine Ideen, die Waren zu präsentieren, die Ausstattung des Ladens,
alles wurde künstlerischer, anders kann man das nicht nennen. Wenn
er nicht an der Nähmaschine saß, gestaltete er den Laden, kaufte
edle Lampen und Kristallspiegel, Kronleuchter und Polstermöbel, war
immer auf den Beinen, in der Kürschnerei, im Laden, im Kontor, wir
arbeiteten Tag und Nacht. Ich stand morgens um sechs auf und freute
mich auf einen neuen Tag mit ihm, ich machte alles so, wie er es
wünschte, aber ich entwickelte auch selbst Ideen, denen er
begeistert zustimmte, ich wienerte den Laden und brachte die alte
Mahagonitäfelung wieder auf Hochglanz, und auf den Kristallspiegeln
hättest du niemals ein Stäubchen gefunden. Du bist meine Beste,
Louisschen, sagte er immer wieder, was täte ich nur ohne
dich.
Emma spielte das Prinzesschen, du
weißt, dass das ihre Art war, zur Arbeit war sie sich eigentlich
immer zu schade. Sie war ja gerade erst neunzehn geworden, heute
denke ich, sie war auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit. Vielleicht
hat die Ehe ihr dann auch den Schmelz genommen, den ihr ihre
glatte, braune Haut verlieh, ihre dunklen Augen unter den
gemeißelten Brauen, ihr roter, geschwungener Mund, den du von ihr
geerbt hast. Und dann ihr Lachen, glucksend und ein wenig heiser,
ich glaube, dass Pekka das sehr fasziniert hat, damals jedenfalls.
Ich dagegen mit dem Straßenköterblond von unserem Vater - unserer
ebenfalls dunkellockigen, ebenfalls in jungen Jahren wunderschönen
Mutter war es immer ein besonderes Vergnügen, dieses Wort
auszusprechen - und der undefinierbaren Augenfarbe, irgendwas
zwischen grau und blau. Louise ist ein reizloser Typ, höre ich sie
noch, nicht Fisch, nicht Fleisch, gut, dass sie wenigstens die
Lachgrübchen hat, sonst wäre gar nichts dran an
ihr.
Trotzdem habe ich mir eine Weile
Hoffnungen gemacht, dass Pekka mich meinen könnte, wenn er so von
innen heraus strahlte und mir seine Reverenzen erwies, ich dachte,
vielleicht möchte er eine zuverlässige, praktische Frau, die beim
Aufbau des Geschäftes mit ihm an einem Strang zieht. Er hatte
damals Elias eingestellt, und immer mal wieder machte er
Bemerkungen in die Richtung, ob der nicht etwas für mich sei, er
habe das Gefühl, ich gefalle ihm. Ich hätte diese Zeichen richtig
deuten müssen, aber manchmal ist man ja wie vernagelt. Elias mit
seinem roten Bart und seinem einfachen Gemüt, seinem Fleiß, seiner
Zuverlässigkeit, seiner bergischen Biederkeit, seiner
Warmherzigkeit, die
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