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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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nun aufgeklärt genug.«
    Lina nahm Annas Arm und bog mit ihr
in die Esplanade ein. Sie wollten Einkäufe machen und dann das
Nationalmuseum besuchen, am frühen Nachmittag waren sie mit den
Polizisten im Präsidium verabredet.
    Unter einem Baum im Park der
Esplanade saß ein kleiner, asiatisch aussehender Mann im
Schneidersitz auf der Erde, er trug eine rote, viereckige Mütze mit
aufgenähten bunten Bändern, seine Augen
waren wie schwarz glänzende Knöpfe. Er schien seine Umgebung nicht
wahrzunehmen und wiegte sich hin und her, aus seinem Mund wehten
seltsame Töne, wie sie sie noch nie gehört hatten. Sie blieben
stehen.
    »Ein Lappe«, sagte Anna, »ich
vermute es jedenfalls, sie tragen solche Mützen.«
    Man hat ihnen ihre Kultur genommen,
kulta, man wollte sie zivilisieren und ihnen unsere dumme
Büchergelehrsamkeit aufzwingen. Aber sie haben sich gewehrt, sie
sind in die Berge gegangen, und ihre Geschmeidigkeit und
Lebenskraft sind noch gewachsen im Kampf mit den
Schwierigkeiten.
    »Er scheint zu joiken«, flüsterte Anna, »so ähnlich
hat es sich auch bei Papa angehört.«
    Sie blieben in einiger Entfernung
stehen, der Mann beachtete sie nicht, sondern sang und wiegte sich
immer mehr in eine Art Trance hinein. Voia,
voia, nana, nana, voia, voia, nana, nana. Immer lauter und drängender wehten die Töne durch die Luft,
auch andere Leute blieben stehen und steckten die Köpfe zusammen.
Ein joikender Lappe
schien im Stadtbild von Helsinki ungewöhnlich zu sein.
    »Es hört sich an, als würde er eine
traurige Geschichte singen«, flüsterte Lina, »eine richtige
Tragödie.«
    Auf einer Bank, wenige Schritte von
dem Mann entfernt, saß eine junge Frau, die ihren Kopf tief über
ein Buch gebeugt hatte. Ihre schwarzen, halblangen Haare fielen wie
ein glatter, seidiger Vorhang vor ihrem Gesicht herunter und
vibrierten. Anna wurde unbehaglich, und sie zog Lina mit sich,
nachdem das Lied des Mannes verklungen war. Nach einigen Schritten
drehte sie sich noch einmal um, und es kam ihr vor, als schaue die
Frau ihnen durch den Haarvorhang hindurch nach. Sie wollte Lina
gerade darauf aufmerksam machen, als diese wie angewurzelt stehen
blieb.
    »Das ist doch nicht zu glauben«,
flüsterte Lina, »guck mal, da ist er wieder.«
    An einen Baum gelehnt stand der
Russe und guckte zu dem Lappen hinüber. Er bemerkte die Frauen, und
es sah zuerst so aus, als wolle er die Flucht ergreifen, dann
machte er jedoch eine linkische Verbeugung. Sie nickten zurück und
gingen schnell vorbei.
    Anna konnte kaum atmen. »Wir müssen
Hugo Bescheid sagen, komm, wir gehen sofort ins Präsidium,
hoffentlich ist er da. Was geht hier vor, Lina, diese Frau kam mir
auch ausgesprochen merkwürdig vor.«
    Lina drehte sich noch einmal um und
sah, wie der Russe zu dem kleinen Mann mit der auffallenden Mütze
ging, ihm vorsichtig half aufzustehen und ihn am Arm fortführte.
Die Dunkelhaarige stand ebenfalls auf und ging langsam hinter ihnen
her, ihr schmaler Rücken verlor sich zwischen den
Passanten.   
    *
    Riikka
    Ihre Ähnlichkeit mit Minna springt
einen regelrecht an, der Gang, die Bewegungen, anscheinend haben
wir tatsächlich alle die gleichen Augen, wie Minna behauptet,
irgendwas scheint ja doch dran zu sein an der Sache mit dem Blut.
Die andere war wohl die zweite Deutsche, von der mir Minna erzählt
hat. Ein Schauer ist mir den Rücken runtergelaufen, als sie
ausgerechnet in dem Augenblick kamen, als du die Geschichte sangst,
Matte. Warum bist du nur hergekommen, warum bist du nicht unter der
Mitternachtssonne geblieben, die dir Heilung gibt, warum nicht in
den Bergen, wo deine Gedanken rinnen können und dein Herz weit
wird.
    Immer hast du gesagt, sie fordern
ihren Tribut, die Uldas, sie blenden durch ihre Schönheit, sie
machen, dass man sie nicht vergessen kann, so wie Marja ihn nie
vergessen konnte, und dann rauben sie uns unsere Kinder. Eines hat
er mir geraubt, aber das zweite wird er nicht bekommen, hast du
gesagt, niemals werde ich ihnen mein kleines Mädchen geben, diesen
Teufeln in der schönen Gestalt. Manchmal hast du ihnen etwas Kaffee
auf den Boden vor der Kote gegossen oder Branntwein, wenn du
welchen hattest. Dieses gebe ich euch, hast du dabei gesagt,
dieses, aber nicht mehr.
    Dies ist das Lied von Matte Turi,
das Lied von seiner Schmach, seinem Verlust, seinem
Unglück.
    Voia, voia, nana, nana.
    Meine Schwester hast du bekommen,
meine schöne Marja hast du mit eurem Gold und Silber gelockt und
mir dafür eine andere

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