Die Reise Nach Helsinki
mehr, dass sie die
Streikenden niederschießen, überall brechen neue Aufstände aus. Und
wenn Sie mich fragen, ist das richtig so. In Finnland gibt es im
Übrigen viele Sympathisanten, der ganze Süden ist
rot.«
»Hat Lenin hier nicht mehrfach
Zuflucht gesucht?«, mischte sich Hugo ein.
»1907 ist er nach Finnland geflohen,
er hat sich in Oulunkylä bei Helsinki und an der Westküste
versteckt. Er hat auch einige sozialistische Kongresse besucht, zum
Beispiel in Tampere. Der russische Geheimdienst interessiert sich
natürlich sehr für diese Dinge, er führt eine umfangreiche Kartei
über russische Anarchisten, die bei uns leben. Darauf setze ich
meine Hoffnung, vielleicht ist der Mann da registriert.«
»Er wirkte nicht böse«, sagte Lina
nachdenklich, »sondern eigentlich ausgesprochen freundlich, mit
diesem Lappen ist er sehr liebevoll umgegangen.«
»Aber er kann doch nicht einfach
immer irgendwo auftauchen, wo ich auch gerade bin!«
Anna war blass, die Angst stand ihr
im Gesicht, als sie am Gebäude des Generalgouverneurs ankamen. Hugo
nahm ihren Arm, Eino flankierte schützend Lina, als sie
hineingingen. Ein mürrischer Beamter brachte sie ins Archiv, wo
sie, nachdem Eino mehrere Formulare unterzeichnet hatte, endlose
Karteikästen mit Fotografien durchsahen. Viele waren dunkel und von
schlechter Qualität, oft waren Anna und Lina nicht sicher, ob es
der Mann sein
konnte.
Als sie den Buchstaben »S« fast
durchhatten, riefen sie plötzlich wie aus einem Munde: »Da, das ist
er!«
Das Foto auf der kyrillisch
beschrifteten Karteikarte war deutlich, allerdings, vermuteten Anna
und Lina, schon einige Jahre alt.
»Dr. Oleg Skrijabin«, übersetzte
Eino, »geboren 1875 in Sankt Petersburg, ausgebildeter Arzt und
Psychiater, seit 1908 in Helsinki, in Russland politisch verfolgt
wegen bolschewistischer Umtriebe, hier politisch nicht auffällig,
Mitglied der SDP, das entspricht der SPD in
Deutschland.«
»Jetzt fällt mir ein«, sagte Hugo,
»dass in Barmen im Mai ein internationales sozialistisches Treffen
stattgefunden hat, bei dem über Strategien der parlamentarischen
Arbeit diskutiert werden sollte. Vielleicht hat er daran
teilgenommen, das würde seine Anwesenheit erklären. Barmen ist ja
die unmittelbare Nachbarstadt von Elberfeld, die Geburtsstadt von
Friedrich Engels.«
In ihm stiegen langsam Konturen
hoch, da passte etwas zusammen. Womöglich hatten sie den
entscheidenden Mosaikstein gefunden.
»Dieser Onkel, Matte Turi, soll doch
psychische Probleme haben, Minna hat gesagt, er werde von einem
Arzt betreut, von einem Psychiater«, warf Anna atemlos
ein.
Eino und Hugo sprangen auf, sie
mussten sich sofort um diesen Skrijabin kümmern.
»Laut Kartei wohnt er in der
Helsingegatan im Norden von Kallio, keine gute Gegend«, sagte Eino,
»vielleicht finden wir ihn auch im Arbeiterhaus. Wenn nicht,
müssten wir eine Fahndung rausgeben.«
»Vielleicht sagt ihr Minna Salander
erst mal nichts, falls ihr sie seht«, sagte Hugo, »ihre Rolle in
dem Spiel kennen wir ja noch nicht.«
Anna und Lina nahmen eine Droschke
zum Fiskarviken, wo sie sich bereithalten wollten, falls sie
gebraucht wurden.
»Mir wird ganz schlecht, wenn ich
daran denke, dass Minna etwas damit zu tun haben könnte«, sagte
Anna, die immer noch blass war. »Außerdem weiß ich nicht, was mit
Hugo los ist, findest du nicht, dass er ziemlich kühl
war?«
»Das bildest du dir ein«, mahnte
Lina, »der hat geguckt wie ein verliebter Gockel, und mehr kann er
in dieser Situation nun wirklich nicht tun.«
*
Hugo und Eino ließen sich nach
Kallio bringen und fragten sich mühsam zu der Wohnung von Dr.
Skrijabin durch, trafen ihn jedoch nicht an. Eine dünne,
misstrauische Nachbarin behauptete, ihn seit Tagen nicht gesehen zu
haben. Sie schoben einen Zettel unter seiner Tür hindurch mit der
Aufforderung, sich unverzüglich bei der Polizei zu melden, und
fuhren dann zum Arbeiterhaus. Auch hier gab es keine Spur von dem
Russen.
»Wenn er sich bis heute Nachmittag
nicht meldet, starten wir die Fahndung, was meinst du?«, fragte
Eino.
»Lass es uns erst noch mal bei Minna
Salander versuchen«, sagte Hugo, »sie muss ja auch etwas über ihn
wissen.«
Sie fuhren zum Engelsplatsen,
klingelten und warteten eine Weile, gerade, als sie wieder gehen
wollten, öffnete Minna, grau und abgekämpft. Ihre Hände flogen, sie
bot Kaffee und korvapuusti an, und die Kommissare nahmen dankbar
an.
»Ist Ihnen ein Oleg Skrijabin
bekannt?«
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