Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
Rolle spielt Thomas?«
»Das ist eine private Angelegenheit zwischen uns.«
In diesem Augenblick tat Eliane etwas völlig Unerwartetes und in Martins Augen Unvernünftiges: Sie gab Alexandra ihren Nagler zurück. Dann bückte sie sich zu den schwarzen Gestalten, die unter dem Türrahmen lagen, untersuchte sie und nahm ihnen ihre Pistolen, Scheiben und andere Utensilien ab. Sie drehte dabei, offensichtlich unbekümmert, Alexandra den Rücken zu. Dann wandte sie sich um und sagte:
»Wir sind hier fertig, führe uns zum Hohen Rat.«
DER HOHE RAT
Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Welch ein Unterschied zu dem überquellenden Leben tagsüber. In den Gassen, durch die sie marschierten, begegnete ihnen niemand. Nicht einmal ein paar verspätete Nachtschwärmer. Als sie den ersten Paternoster erreichten, stieg Alexandra allein in eine Kabine. Eliane und Martin benutzten die nachfolgende.
»War das nicht riskant, ihr die Waffe wiederzugeben?«, fragte Martin, als sie unter sich waren.
»Nein, ich habe das Magazin entfernt. Hätte sie falsch gespielt, hätte sie bereits im Zimmer versucht, uns zu erschießen.«
»Vielleicht ahnte sie, dass sie nicht geladen war.«
»Wie auch immer. Jetzt dürfte sie es bereits herausgefunden und sie mit einem neuen Magazin versehen haben.«
»Dann erleben wir vielleicht eine unangenehme Überraschung, wenn wir aus dem Paternoster steigen.«
»Ich glaube nicht. Ihre zweite Version der Geschichte war nahe an der Wahrheit. Ich denke, wir können ihr vertrauen. Sie ahnt, dass wir etwas wissen, was für Stonehenge von großer Bedeutung ist.«
»Wolltest du sie wirklich töten, als du auf sie geschossen hast?«
»Drohungen ohne Konsequenzen sind wertlos. Aber in diesem Fall habe ich danebengeschossen.« Sie lachte leise.
»Eliane, du bist mir ein Rätsel«, entgegnete Martin. In diesem Augenblick kamen sie an einem roten Ausstieg vorbei. Sie sprangen aus dem Paternoster. Alexandra wartete schon.
»Jetzt werden wir auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen«, sagte sie. Nach einem Marsch durch verwinkelte Gänge gelangten sie über eine Treppe an eine verschlossene Tür. Alexandra öffnete sie mit einem Schlüssel. Sie führte ins Freie. Über ihnen flackerte eine Aurora am Nachthimmel. An einer Anlegestelle war ein kleines Luftschiff angedockt.
»Wir sind ja bereits oben in der Stadt, wo wollen wir denn noch hinfliegen?«, fragte Martin.
»Zum Hohen Rat natürlich.«
»Der Hohe Rat befindet sich nicht in Stonehenge?«
»Er wacht über Stonehenge«, entgegnete Alexandra und deutete in den Nachthimmel. »Er ist weiter oben.«
Zum Erstaunen Martins besaß Alexandras Luftschiff einen Elektroantrieb. Der war allerdings wesentlich raffinierter als Thomas‘ Konstruktion, mit der sie im Kessel von Stahldorf Schiffbruch erlitten hatten. Die vier Elektromotoren konnten von einer Kabine aus ferngesteuert werden. Sanft und beinahe geräuschlos hob das Luftschiff ab. Lichter hatte Alexandra keine gesetzt. Als dunkler Schatten glitt das Schiff über die Stadt und kletterte in die Höhe. Martin hatte mitbekommen, wie Alexandra bei der Anlegestelle Ballast ausgeklinkt hatte. Vermutlich wegen der zusätzlichen Passagiere.
Als sie die ganze Stadt unter ihnen überblicken konnten und sie nach Martins Schätzung etwa einen Kilometer aufgestiegen waren, tauchte über dem Luftschiff eine riesige dunkle Scheibe auf, kaum wahrnehmbar am finsteren Nachthimmel. Alexandra hielt geradewegs darauf zu, und als sie näher kamen, traten immer mehr Details hervor. Es war ein mächtiges Luftschiff in Kreisrunder Form, das da über der Stadt am Himmel schwebte.
»Wieso habe ich das tagsüber nicht gesehen?«, fragte Martin.
»Es hat eine Tarnvorrichtung wie ein Chamäleon und kann sich der Farbe des Himmels und der Wolken anpassen«, antwortete Alexandra.
»Es ist eine Luftinsel«, bemerkte Eliane. »Der Sitz des Hohen Rates.« Sie stand neben Martin. Alexandra vor ihnen war auf die Steuerung konzentriert. Martin bemerkte, wie ihre Hand in seine Manteltasche glitt und dort etwas deponierte. Als sie ihre rechte Hand wieder zurückgezogen hatte, griff er unauffällig in die Tasche. Seine Finger ertasteten einen Nagler, mehrere murmelgroße Kugeln und einen kleinen Metallzylinder. Er ließ sich nichts anmerken und beobachtete Alexandra beim Anlegemanöver. Das Schiff glitt in eine Bucht an der Unterseite der Luftinsel, die gerade groß genug war, um es aufzunehmen. In der Dunkelheit erschien ein grün
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