Die Reise nach Uruk
Zusammenleben mit Tobias Stifter etwas bedeutet hatten, zählten plötzlich nichts mehr. Dieser Wandel ging so blitzartig vonstatten, daß sie selbst am meisten darüber schockiert war.
Zumindest aber tief verunsichert.
Nach einer Weile erinnerte sie sich wieder an ihre Beobachtung vor dem Auftauchen von Pescaras Boten. Schwerfällig erhob sie sich vom Bett. Aber sie versteckte sich nicht noch einmal hinter dem Vorhang, sondern stellte sich offen ans Fenster.
Die Stelle, wo der merkwürdig aussehende Mann gestanden hatte, war leer. Er war fort.
Obwohl sie sich gerne eingeredet hätte, er hätte rein zufällig herumgestanden, gelang es ihr nicht, daran in ihrem Innersten zu glauben.
Ihr Gefühl - auf das eigentlich immer Verlaß gewesen war - behauptete das Gegenteil: nämlich daß er vorsätzlich und ihretwegen dort unten gewartet hatte.
Wenn das aber stimmte, wo war er dann jetzt? Und wer hatte ihn beauftragt? Salvat? Pescara (obwohl das keinen Sinn zu machen schien, denn er wußte ja, wo sie abgestiegen war)?
Elisabeth merkte, daß sie so nicht weiterkam. Sie seufzte.
Die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit verstrich wie im Fluge.
Zeit.
Manchmal hatte Elisabeth das verstörende Gefühl, ihre alterslose Hülle könnte aus nichts anderem als eben Zeit bestehen, gestohlener Zeit . Und wann immer sie darüber nachgrübelte, blieb es nicht aus, daß sie sich vor dem Moment fürchtete, wenn sie einen Beweis finden würde, daß auch dieses zweite Leben nicht halb so selbstbestimmt und unvergänglich war, wie es bislang den Anschein hatte.
Irgendwann würde auch sie bezahlen müssen. Nur den Preis kannte sie noch nicht .
*
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr es mich freut, daß Ihr gekommen seid .«
Elisabeth konnte sich wahrscheinlich sehr viel mehr vorstellen, als es Francesco Pescara lieb gewesen wäre, hätte er davon gewußt.
»Ich hatte Hunger«, sagte sie, »und gerade keine andere Einladung zur Auswahl.«
Der Kaufmann hatte sich wie zu einem festlichen Anlaß aufgetakelt. Momentan wirkte er jedoch verunsichert, wie er Elisabeth' Bemerkung auffassen sollte: als Scherz - oder als die Beleidigung, die er im Geheimen fürchtete.
»Erwartet Ihr noch andere Gäste?« lenkte Elisabeth ein.
»Nein, warum?«
»Weil Ihr Euch so fein herausgeputzt habt.«
»Tut man das nicht, wenn man eine Dame einlädt?«
»Ihr seid sehr freundlich. Ohne Euch wüßte ich vermutlich immer noch nicht, wie ich mein Vorhaben, nach Ägypten reisen zu wollen, in die Tat umsetzen sollte.«
»Ich weiß.«
Dieses blasierte »Ich weiß« war zweifellos die Retourkutsche für ihre vorausgegangene lose Zunge. Elisabeth akzeptierte es schulterzuckend.
Pescara wurde auch sogleich wieder zugänglicher. Das Treffen fand in einem hafennahen Haus statt, das geschmackvoller ausgestattet war als mancher Adelspalast. Der Kaufmann gehörte offen-bar auch nicht zu dem Menschenschlag, der mit seinem Reichtum hinter dem Berg hielt.
Später, bei einem ansprechenden Essen, das der Junge auftrug, der für Pescara auch den Botendienst geleistet hatte, fragte Elisabeth: »Wer ist das? Er sieht Euch überaus ähnlich.«
»Das hoffe ich sehr. Er ist mein Sohn.«
»Euer Sohn .« Elisabeth fand es höchst sonderbar, daß ein so begüterter Mann wie Pescara sich vom eigenen Sohn bedienen ließ. Außerdem erinnerte sie sich gut daran, daß der Junge auf ihre Nachfrage Pescara als seinen Herrn bezeichnet und nicht zu erkennen gegeben hatte, daß es sich um seinen Vater handelte. Das alles hatte in ihren Augen etwas ungemein Befremdliches. Aber diesmal hütete sie ihre Zunge und schweifte in ihren Gedanken zu Raphael ab, der sich - wäre alles mit rechten Dingen zugegangen - seinem Aussehen nach jetzt schon in Francesco Pescaras Alter hätte bewegen müssen -in der Realität hatte er jedoch nicht einmal annähernd die Statur von dessen Sohn erreicht.
Für Elisabeth war es ein weiteres Beispiel, zu welchen Kuriositäten die Zeit fähig war.
»Wie lautet sein Name?«
»Manuel. Ihr interessiert Euch für ihn?« Pescaras Frage und die Blicke, mit denen er Elisabeth dabei musterte, waren fast unmißverständlich.
»Ihr interessiert mich mehr«, log sie, nur um keine noch komplizierteren Verwicklungen zu provozieren. Sie bereute längst, der Einladung gefolgt zu sein. Vielleicht wäre es leichter gewesen, die Gesellschaft der Kakerlaken zu ertragen als Pescaras Penetranz.
Der Kaufmann schmälte die Augen. »Das glaube ich
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