Die Reisen des Paulus
warm gewesen sein, aber die Reisenden von damals waren zäh – sie hatten auch keine andere Wahl.
Immerhin wird es auf diesem großen Frachter eine Kom-büse mit recht guter Kost gegeben haben, mit heißer Suppe und Brot, und viele Passagiere hatten sich mit zusätzlichem Reiseproviant eingedeckt. Das Schiff lief Regium an, Stadt und Hafen an der »Stiefelspitze« Italiens. Vielleicht wollten einige Passagiere nach Regium, aber wahrscheinlicher ist, daß die Strömung in der Straße von Messina ungünstig war.
Diese Strömung schlägt zweimal pro Tag von Norden nach Süden um. Der Kapitän wird respektvollen Abstand von der Charybdis, dem Strudel auf der sizilianischen Seite, gehalten haben, der seinem stattlichen Schiff allerdings nicht so gefährlich werden konnte wie der Nußschale des Odysseus.
Und das Ungeheuer, die Scylla, die drüben auf der italienischen Seite auf einem Felsen gehockt und von den Schiffen die Matrosen geholt und an sich gerissen hatte, gab es nicht mehr. Die Römer hatten dieses Meer zum größten Teil ge-bändigt – soweit das bei einem Meer überhaupt möglich ist.
Wieder bekamen sie einen günstigen Südwind in die Segel, und jetzt ging es an der italienischen Küste entlang, vorbei an Capri, das durch Tiberius so in Verruf geraten war; Capri, die schöne Felseninsel mit ihren Weinstöcken und 354
süßen Trauben, aber die lag noch im Winterschlaf. Dann der Golf von Neapel, Steuerbord voraus der Vesuv. Im Augenblick ruhte der große Vulkan, und die Bürger von Stabiae, Herculaneum und Pompeji, jener drei vielbesuchten Orte am Fuße des Vesuvs, vergnügten sich auf den Marktplätzen, in den Schänken und Bordellen und ahnten nicht, daß der Berg potentiell aktiv war. Ein Jahr später (63 n. Chr.) begann sich der schlafende Riese zu regen. Die Erde bebte, be-trächtlicher Schaden entstand. Aber man vergaß es wieder, bis der Vesuv am 24. August 79 ausbrach – jene gewaltige Eruption, die alle umliegenden Städte zerstörte. Hätte Paulus vom Tun und Treiben der Pompejaner gewußt, so hätte er zweifellos gesagt, das sei Gottes gerechte Strafe. Doch zu diesem Zeitpunkt war er schon fünfzehn Jahre tot.
Vor ihnen erhob sich jetzt schimmernd weiß im Son-
nenlicht die Stadt Neapolis. Sie gehörte zu den frühesten griechischen Gründungen in diesem Gebiet und war lange ein bedeutendes Kultur- und Handelszentrum gewesen.
Perle des Tyrrhenischen Meeres – so konnte man Neapolis nennen (während das moderne Neapel von Hochhäu-
sern und der »internationalen« gleichmacherischen Archi-tektur verschandelt wird). Die Schönheit der Stadt und das luxuriöse urbane Leben lockten viele Römer an, aber trotzdem behielt Neapolis seinen griechischen Charakter. Doch das Schiff legte nicht hier an, sondern in Puteoli. Puteoli lag einige Kilometer weiter westlich, hatte einen vorzüglichen Hafen und war der Hauptort des Getreidehandels, der Zielhafen der Frachter aus Alexandrien. Die Stadt besaß einen besseren Hafen als Neapolis, was sie zum Teil Caligulas Extravaganzen verdankte. Seine schwimmende Bootsbrük-355
ke, die bis zum Badeort Bajä reichte, war ein Stück weit als Mole ausgebaut worden, an der alle Kauffahrteischiffe fest-machten. Puteoli war kosmopolitisch, ein buntes Völkergemisch. Händler und Seeleute von überall her, Marktschreier, Musikanten, Schankwirte, Huren – all das, was man in einem großen internationalen Hafen findet. Paulus näherte sich dem Ende dieser Reise – dem Ende seiner sämtlichen Reisen.
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D E R
Paulus durfte mit Erlaubnis seines Begleitoffiziers Julius eine Woche in einem Privathaus zu Puteoli verbringen.
Julius mußte zweifellos eine Reihe von dienstlichen Maß-
nahmen treffen, zum Beispiel dafür sorgen, daß die Gefangenen nach Rom kamen. Vielleicht wollte er auch ein paar Tage und Nächte ausspannen – in angenehmer Umgebung und mit viel Unterhaltung. Er wußte jedenfalls, daß Paulus nicht fliehen würde. Es dürfte Paulus sehr ermutigt haben, in Puteoli eine kleine Christengemeinde vorzufinden. Er erfuhr, daß auch in Rom eine blühende Gemeinde bestand.
Eine Botschaft wurde gesandt, um die Brüder in Rom von der baldigen Ankunft des Mannes zu unterrichten, der so unermeßlich viel für ihre Sache getan hatte. Offenbar war die Ausweisung der Juden und Christen durch Claudius nicht vollends geglückt. Vielleicht hatte Nero die Verfügung auch wieder rückgängig gemacht, oder, was am wahrschein-lichsten ist,
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