Die Reisen des Paulus
man hatte einfach keinen Druck mehr dahinter gesetzt und die Dinge eben laufen lassen. Die Thronbe-steigung eines neuen Kaisers ähnelte in mancher Hinsicht dem Regierungswechsel in einem modernen Staatswesen.
Die Vorgänger wurden fast immer geschmäht. Neue Leu-te besetzten die Plätze in der Verwaltung, und viele frühere Edikte wurden aufgehoben oder schlicht vergessen.
Von Puteoli reisten Paulus und seine beiden Freun-
de unter Bewachung nach Formia, einer alten Stadt an der Via Appia, 64 Kilometer von Rom entfernt. In der Umgebung hatten viele vornehme Römer ihre Landhäuser, denn 357
hier wuchs ein guter Wein, und das Klima war wesentlich angenehmer als im hochsommerlichen Rom. Paulus näherte sich endlich seinem Ziel, dem Ziel, um das er jahrelang so hart gekämpft hatte. Er näherte sich dem Herzen des Reiches, dem Ort, wo der Kaiser residierte und verkündete, er sei Gott. Was bedeutete Rom für Paulus? Es war gewiß die größte Stadt, die er je gesehen hatte. Daneben verblaßten Tarsus, Jerusalem, Korinth und sogar Athen, wirkten provinziell. Die Bevölkerung bestand damals aus über einer Million römischer Bürger und vermutlich derselben Anzahl Sklaven. Es war das Rom, das der große Satiriker Juvenal nicht viele Jahre nach Paulus’ Tod folgendermaßen beschrieb:
Die Wagen rumpeln vorbei
Durch enge, gewundene Straßen, und Flüche von Rollkut-schern schallen,
Weil sie steckenbleiben im Verkehr … Wenn ein Geschäft Den Magnaten ruft, begibt er sich rasch mit der Sänf-te hin, Erhoben über die Menge. Drinnen ist Platz genug: Er kann lesen, kann schreiben und dösen, wenn’s langsam dahingeht –
Der Vorhang ist zu und befördert den Schlaf. Jedenfalls Überflügelt er uns: denn sosehr wir zu Fuß uns beeilen, Die Menge da vorn hält uns auf, und hinter uns kommen andre Und drängen. Spitze Ellbogen bohren sich in meine Rippen, Stangen stoßen mich an; ein Tölpel schwingt einen Balken herum Und trifft meinen Schädel, ein anderer rollt mir ein Faß in den Weg. Meine Beine bespritzt mit Straßenkot – und große Füße treten mich, Ein grobgena-gelter Soldatenstiefel trifft genau meinen Zeh. Siehst du Da vorn diesen Dampf und den Menschenschwarm? Des
großen Mannes Nachläufer Erhalten ein Gratisessen, und 358
jedem wartet Ein Küchenjunge auf. Die riesigen Feldkes-sel Und was daneben noch nötig ist, muß ein armer kleiner Sklave Auf dem Kopfe tragen, hin und wider laufen.
Das Feuer in Gang zu halten, würde einen muskelstarken Kriegsherrn
Alle Kräfte kosten. Und dort, der wacklige Riesenstamm einer Tanne, Hoch auf dem Wagen fährt er dahin. Und schau, dahinter ein zweiter, Gefährlich beladen mit hölzer-nen Scheiten, eine schwankende, drohende Last Über den Häuptern der Menge.
Das war die Welt, die Paulus in den Jahren kennenlernen sollte, die er in Rom verbrachte. Er wartete auf seinen Prozeß und lebte so lange zweifellos in einer eigenen Wohnung, in einem Mietshaus. Für die Kosten kamen er und seine An-hänger auf. Das Haus befand sich vielleicht in der Nähe einer Kaserne, und es wird ihn wohl bei Tag und Nacht ein Soldat bewacht haben. In Rom schrieb er einige von den großartigen Briefen an die Philipper, Epheser und Kolosser, an Philemon, Titus und Timotheus und gewiß auch noch andere, die verlorengegangen sind. Rom regte ihn an.
Wie hätte es auch anders sein können? Nach all den Jahren, in denen er gereist und oft krank und oft mißhandelt worden war, hatte er zu guter Letzt die Metropole der Macht erreicht. Er sprach mit den Christen, er sprach mit den Juden, er sprach mit allen, die bereit waren, ihm zu lauschen.
Er schuf in Rom eine Glaubensgemeinschaft, die den Untergang des Römischen Reichs überstand. Die Apostelgeschichte schließt mit den folgenden Worten: »Paulus aber blieb zwei volle Jahre in seiner eigenen Wohnung und nahm auf alle, die zu ihm kamen, predigte das Reich Gottes und 359
lehrte von dem Herrn Jesus Christus mit allem Freimut ungehindert.« Es ist ein Beweis für den Liberalismus und die Toleranz der Römer, daß Paulus selbst unter der Herrschaft Neros so offen reden durfte. Paulus lernte auch das Rom kennen, das J. W. Mackail viele Jahrhunderte später folgendermaßen beschrieb:
»Wasser tropfte vom Aquädukt überm Tor; darunter lief die staubige, schmutzige Via Appia hin, geradewegs durch die Suburbia; die Mansarde: genau wie heute glätteten sich die Tauben das Gefieder, trommelte der Regen aufs Dach; die engen, überfüllten Straßen
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