Die Reisen des Paulus
daß die Hauptstadt alle Ingredienzien enthielt, die man für jede nur erdenkliche Spielart sinnlicher und sexueller Lüste brauchte. Jedes Ding und jede Person waren der Laune des Kaisers unterworfen. Weil seine Praktiken derart widerwärtig waren, sagte Sueton, mußte sich der Kaiser auf eine abgelegene Insel zurückziehen, wo er sich benehmen konnte, wie es ihm behagte, und doch vom Großteil des Volkes unbeobachtet blieb.
»In seiner Abgeschiedenheit zu Capri aber erdachte er gar sein Sofazimmer als Sitz geheimer Ausschweifungen, in welchem Scharen von überall zusammengebrachten Mäd-72
chen und Lustknaben und Erfinder von unnatürlichen Bei-schlafweisen, die er ›Spintrier‹ zu nennen pflegte, zu dreien verbunden miteinander Unzucht treiben mußten, während er zuschaute, um durch den Anblick die abgestumpften Begierden aufzustacheln. Seine verschiedenen Schlafgemächer schmückte er mit den malerischen und plastischen Darstel-lungen lasziver Szenen und Figuren und versah sie mit den Schriften der Elephantis*, damit es niemand beim Ausüben der Wollust an einem Muster der vorgeschriebenen Weise fehlen möchte. Auch in Parks und Gehölzen legte er an vielen Stellen sogenannte Venusplätze an, wo in Grotten und Felshöhlen junge Leute beiderlei Geschlechts als Pa-nisken und Nymphen verkleidet zur Wollust einluden. Daher pflegte man ihn denn auch bereits ganz öffentlich und allgemein mit Verdrehung des Namens der Insel, mit dem Beinamen Caprineus** zu benennen.« Sueton fährt fort:
»Noch Ärgeres und Schmählicheres ist ihm nachgesagt worden, was sich kaum erzählen oder anhören, geschwei-ge denn glauben läßt: als habe er Knaben vom zartesten Alter, die er seine ›Fischchen‹ nannte, angeleitet, ihm beim Ba-den an den Hüften herumzuschwimmen und zu spielen,
ihn zu lecken und zu beißen …« Suetons Darstellung von Tiberius’ pervertierten Sitten, seinem Sadismus und seiner starken Neigung zur Oralerotik ist mehr als deutlich. Nach so vielen Jahrhunderten läßt sich nicht sagen, was an Suetons Darstellung glaubwürdig ist und was nicht; jedenfalls
* Griechische Schriftstellerin, die u. a. auch erotische Themen behandelte (A. d. Ü.)
** »Der Ziegenbockige«, der Bock. Im Namen Capri ist das Wort caper (Ziegenbock) enthalten. (A. d. Ü.)
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weiß man mit Sicherheit, daß er dreißig Jahre lang unter der Herrschaft der Cäsaren lebte. Ein Gutteil dessen, was er über Tiberius und seine Nachfolger berichtet, bezog er von deren Zeitgenossen und von Augenzeugen. Außerdem hatte er Zugang zu den kaiserlichen und Senats-Archiven. Im allgemeinen erscheint er als ein Mann, der seine Fakten überprüfte und nicht mit der Voreingenommenheit eines Tacitus Geschichte schrieb.
Es fällt schwer, alle Vorwürfe zurückzuweisen, die man gegen Tiberius erhob. Selbst wenn man einige davon fallen-ließe, blieben noch genügend übrig, insbesondere, was seine irrwitzige Grausamkeit und seinen Sadismus betrifft. Sueton berichtet: »Noch jetzt zeigt man auf Capri die Stät-te seiner Henkerei, von wo er die Verurteilten nach langen, ausgesuchten Martern in seiner Gegenwart ins Meer hinab-stürzen zu lassen pflegte, während unten ein auf sie warten-der Haufe von Matrosen die Leichname mit Stangen und Rudern vollends zerschmetterte und ihnen den letzten, etwa noch übrigen Lebenshauch austrieb. Unter den Marterar-ten hatte er auch die ganz eigentümliche ausgedacht, daß er hinterlistigerweise die Leute sich stark mit Wein beschwe-ren ließ und ihnen dann plötzlich das Schamglied dergestalt unterbinden ließ, daß sowohl die straff angezogenen Schnü-
re als der zurückgehaltene Urin ihnen die furchtbarsten Schmerzen machten.« Das war der Mann, der auf dem Gipfel der Macht saß. Das war der Kaiser und Gott, vor dessen Statuen tagtäglich Weihrauch verbrannt und Hunderte von Tieren geopfert wurden. Selbst wenn sich die Hälfte der Geschichten, die über ihn in Umlauf waren, als unwahr erwiese, stünde vor uns das Bild eines Monstrums. Wenn Ac-74
tons Ausspruch zutrifft, dann muß man in Tiberius die absolute Korrumpierung durch die absolute Macht sehen.
Es schien unmöglich, daß eine unterworfene Nation oder gar ein einzelner etwas gegen seine Legionen, gegen Macht und Reichtum Roms, gegen die unzähligen Frachtschiffe auf den Handelsstraßen in aller Welt, gegen die kaiserliche Kriegsflotte, gegen die Feldherren, die Belagerungsmaschi-nen, die Geheimpolizei, die Statthalter und Verwaltungsbe-amten
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