Die Reisen des Paulus
wichtigsten Handelsrouten der damaligen Zeit und war daher natürlich ein Hauptumschlagplatz für Güter aller Art. Die Stadt wird im Buche Genesis erwähnt. Im Krieg der Könige soll Abra-ham seine Widersacher geschlagen und bis nach Hoba, »das nördlich der Stadt Damaskus liegt«, gejagt haben.
Damaskus war lange Zeit die Hauptstadt des unabhän-
gigen Königreichs Syrien. Später wurde es nacheinander von den Assyrern, Babyloniern, Persern, Griechen und Rö-
mern erobert. Die Stadt lag in einer sehr fruchtbaren Gegend und war schon sehr früh für ihre Früchte und Blumen und handwerklichen Erzeugnisse bekannt. (Heute noch gibt es die Bezeichnungen Damaszener Pflaume und Damaszener Rose.) Unter den römischen Kaisern war die Stadt für die Qualität der dort hergestellten Waffen berühmt, daher unser Wort Damaszener Klinge. Viele Jahrhunderte, nachdem der mit Blindheit geschlagene Paulus nach Damaskus geführt wurde, sagte der Stifter einer anderen Religion, der Kaufmann Mohammed, er werde Damaskus nie betreten,
falls er der Schönheit dieser Stadt wegen das eigentliche Pa-radies im Himmel vergessen sollte.
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Paulus’ Gefährten dachten zweifellos, er sei dem Tode nah. Deshalb brachten sie ihn unverzüglich in das Haus eines prominenten jüdischen Bürgers namens Judas. Höchstwahrscheinlich gehörte Judas zu den Synagogenältesten und war die Kontaktperson des Sanhedrin. Er wohnte in der Geraden Gasse, der wichtigsten Durchgangsstraße der Stadt, wo alle bedeutenden Kaufleute und Händler ihre Häuser und Geschäfte hatten. Nachdem Paulus’ Begleiter ihren kranken Anführer bei Judas untergebracht hatten, scheint sich die Gruppe aufgelöst zu haben. Jedenfalls findet sich nirgendwo ein Hinweis darauf, daß nun irgendwelche Maßnahmen gegen die Judenchristen zu Damaskus ergriffen wurden. Das zeigt uns, welche Kraft und Autorität von Paulus ausging – alles verlief sich, weil er zu sterben schien. Die Nachricht von der Ankunft des Christenver-folgers muß sich bei den Juden sehr schnell herumgesprochen haben. Damals konnte man nur durch bewachte Tore in die Städte gelangen, und wenn jemand Einlaß begehrte, wurden seine Identität und sein Reiseziel festgestellt. Nicht einmal unter dem ehrfurchtgebietenden Schutze Roms war die Welt sicher. In jeder Stadt konnte es zu Volkserhebun-gen kommen, jede Stadt konnte dann und wann von au-
ßen angegriffen werden. Das Eintreffen eines so berühmt-berüchtigten Mannes wie Paulus – der sich obendrein in einem recht merkwürdigen Zustand befand – wird wohl kaum unbemerkt geblieben sein. Die Neuigkeit wanderte von Mund zu Mund. Bald wußten es alle in der großen jüdischen Gemeinde zu Damaskus: der Mann, der die Anhänger des Messias in Jerusalem verklagt und verfolgt hatte, war angekommen. Leicht verständlich, daß auch ein prominen-118
ter Angehöriger der neuen Sekte erfuhr, Paulus befände sich im Hause des Judas in der Geraden Gasse. Der Überlieferung nach hatte Ananias eine Vision. Gott sprach zu ihm und sagte, ein Mensch »namens Saul von Tarsus« bedürfe seiner Hilfe, und teilte ihm mit, wo er zu finden sei. Plötzliche Bekehrungen kamen zu allen Zeiten vor – Bekehrungen zu einer Religion, aber auch Bekehrungen zu materialistischen Ideologien. Im 20. Jahrhundert gab es im Westen etliche Männer und Frauen von Geist, die sich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise vor dem Zweiten Weltkrieg zum Kommunismus bekannten, ihn danach aber als gescheiterte Utopie betrachteten, völlig ablehnten und überzeugte Christen wurden. Professor Starbuck belegte in seinem Werk über Religionspsychologie statistisch, wie viele echte Bekehrungen in der Adoleszenz auftreten. Paulus befand sich schon in reiferen Jahren. Doch er war ein Mann von hoch-sensiblem und leidenschaftlichem Temperament – der Typus, der so häufig zu Bekehrungen neigt. In The Varieties of Religious Experience ( Die religiöse Erfahrung in ihrer Man-nigfaltigkeit )führt William James eine Reihe von schriftlich festgehaltenen Bekehrungen an, die auf die eine oder andere Weise dem Erlebnis des Paulus entsprechen. »Die wun-derbarste Bezeugung einer plötzlichen Bekehrung, die ich kenne«, schreibt James, »stammt von Herrn Alphonse Ra-tisbonne, einem freidenkenden französischen Juden, der in Rom 1842 zum Katholizismus übertrat. In einem Brief, den er einige Monate später an einen geistlichen Freund schrieb, berichtet er mit bewegten Worten über die begleitenden Umstände …« James zitiert
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