Die Reisen des Paulus
bei Autoren, welche über die damalige Zeit schreiben, immer wieder auftauchen (etwa »Er ging in die Wüste«), stellen für das neuzeitliche Denken eine gewisse Herausforderung dar. Die Vorgänge scheinen unglaublich und mithin im 125
Bereich des Märchens angesiedelt. Und wie macht man das, einfach in die Wüste gehen? Das tun Menschen bis zum heutigen Tage. Brot oder die nötigen Zutaten, Salz, Datteln und natürlich Wasser – mehr braucht man nicht, wenn man durch eine Wüstengegend reisen will. Und Damaskus ist zentral gelegen, ein Knotenpunkt an den großen Handelsstraßen, die vom Roten Meer über Arabien nach Kleinasien und zum Schwarzen Meer führen. Paulus hätte mit einer Karawane ohne weiteres in fast jeden Teil des Ostens reisen können. Er selbst berichtet, daß er nach Arabien ging. Man hat endlose – und fruchtlose – Vermutungen darüber an-gestellt, welchen Ort er sich aussuchte und was er dort tat.
Und da wir darüber keine Auskunft haben und wohl auch keine mehr bekommen werden, kann man Paulus’ Schweigen über diese Dinge nur als ein Verstummen werten – als das Verstummen eines Mannes, der durch ein einzigartiges Erlebnis so aufgewühlt ist, daß er völlige Ruhe und Stille in einer ihm nicht vertrauten Umgebung braucht. Paulus hatte etwas erlitten, was wir heute einen Nervenzusammenbruch nennen würden – aber es war sehr viel mehr als das.
Nach wie vor stellt sich eine Frage, die von Theologen meist vernachlässigt wird: wie lebte Paulus? Vermutlich arbeitete er wieder als Zeltmacher. Ein nützliches Handwerk in einer Wüstengegend, obendrein ausfüllend und doch be-schaulich – wie die Arbeit eines Schusters. Auch Segelma-cher finden ihren Beruf erholsam, obwohl er ihnen großes technisches Können abverlangt. Man vermutete des öfte-ren, Paulus habe gleich zu predigen begonnen oder sei gar, so eine moderne Theorie, in eine essenische Gemeinschaft eingetreten. Nach einer anderen Hypothese soll er auf die 126
Halbinsel Sinai gegangen sein, wo Mose der Überlieferung nach dem Volk Israel das Gesetz verkündigt hat. Sei dem wie auch immer, jedenfalls verschwindet Paulus für drei Jahre aus der Geschichte.
Drei Jahre sind eine lange Zeit für einen Mann in den frühen Dreißigern. Die meisten bauen zu dieser Zeit ihre Karriere auf oder versäumen dies oder widerrufen ihr bis-heriges Leben. Und das letztere tat Paulus. Seine Bekehrung zum neuen Glauben machte ihn zum Verräter an allem, was er im Laufe seiner Erziehung gelernt hatte. Es ist auch möglich, daß Paulus seinen Vater nicht schätzte und sein Leben lang nach einem Vaterersatz gesucht hatte. Im Jahwe des orthodoxen Judentums fand er ihn nicht. Jahwe ähnelte mit all seinen Geboten und Forderungen vielleicht zu sehr dem Vater zu Hause in Tarsus. Möglicherweise sah Paulus in Jeschua oder Jesus, dem Gekreuzigten, die Imago des Rebellen, die er in seinem Herzen trug. Die Anhänger Jesu waren Rebellen, sie lehnten sich gegen die Zustände in der Welt auf. Doch im Gegensatz zu den Zeloten behaupteten sie nicht, das römische Reich könne mit dem Schwert vernichtet werden. Ihr Ansatz war subtiler. Ihrem Messias getreu sagten sie, ihr Reich sei nicht von dieser Welt. Angesichts des römischen Schwerts, des römischen Speers und der disziplinierten Macht des römischen Reiches gebe es nur eine Möglichkeit: eine andere Welt, ein Land, in dem nur bestimmte Menschen leben konnten, auserwählter
noch, als es die übrigen Juden zu sein glaubten. Diese Überzeugung, die sich nun auch Paulus zu eigen machte, war keine einfache Sache. Ein solcher Ansatz gehört auch heute noch mit zum Schwierigsten, was man sich vorstellen kann 127
– denn vor ihm türmt sich die Macht anderer Reiche auf, ihr Reichtum, ihre Gewaltsamkeit und Unverantwortlich-keit. Es nimmt nicht wunder, daß ein Mann, der so leidenschaftlich war wie Paulus, nach dieser totalen Umstellung seines Denkens eine lange Zeit der Ruhe und der Wieder-anpassung benötigte. Und so ging er denn in die Wüste …
Er lernte das gleißende Licht kennen, das tiefe Schweigen, die Pracht der Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, er sah den Mond riesig und rotorangefarben über dem Horizont hochsteigen, er sah die unvergleichliche Reinheit und Klarheit des Nachthimmels, in dem die Sterne so groß wie der Mond erscheinen. In der Wüste ist der Mensch sehr allein, selbst wenn er sich in Gesellschaft anderer befindet. Er wird sich der ungeheuren Weite der Natur und seiner Win-zigkeit vor
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