Die Reisen des Paulus
die sakrale Kunst und Literatur, die sie vor Augen hatten. Dies war selbstverständlich bei Paulus nicht der Fall. Er wurde als strenggläubiger pharisäischer Jude erzogen. Anscheinend war er unverheiratet, nichtsdestoweniger aber leidenschaftlich und sehr gefühlvoll. Er mußte seine Energie und seine hohe Intelligenz sozusagen kanalisieren. Wenn die Religion der Väter, wenn das Gesetz selbst ihn im Stich ließ, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich anderen Dingen zuzuwenden. Das heißt keinesfalls, daß das »Wunderbare«
an seiner Bekehrung verwässert oder diskreditiert werden soll.
Paulus wurde nun Gottes »auserwähltes Rüstzeug, daß er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor 122
das Volk Israel«. Ananias ging zur Geraden Gasse, die sich weiß schimmernd durch die Stadtmitte von Damaskus zieht.
Er betrat das Haus des Judas. Er legte Paulus die Hände auf und sagte, der Herr, dem er diene, habe ihm befohlen, Paulus wieder sehend zu machen. Die Apostelgeschichte berichtet schlicht: »Und alsbald fiel es von seinen Augen wie Schuppen.« Dazu ist noch weit mehr gesagt worden; man konsultierte Mediziner, Augenspezialisten, man versuchte alles mögliche, um etwas zu erklären, das eigentlich nur metaphorisch gemeint war. Paulus war blind für die Wahrheit gewesen, jetzt aber sah er sie klar und deutlich vor sich.
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Um Christi willen habe er alles aufgegeben, schrieb Paulus später. Der Mann, der jetzt in Damaskus langsam wieder zur Besinnung kam, brach nachher seiner Überzeugung zuliebe fast alle Verbindungen mit dem orthodoxen Judentum ab. Aber im Augenblick war er den Mitgliedern der neuen Sekte höchst verdächtig, hatte er doch alles getan, was in seiner Macht stand, um sie zu unterdrücken.
Er ließ sich taufen (vielleicht unmittelbar vor der Stadt, im Abana-Fluß), und das überzeugte einige Christen wohl davon, daß man ihm trauen konnte. Er ging in die Synagogen, bekannte seine früheren Irrtümer und sagte, er glaube fest, der Mann, den die Römer gekreuzigt hätten, sei wahrhaftig der Sohn des Schöpfers gewesen. Paulus’ außerordentliche Intelligenz, die er vorher eingesetzt hatte, um die Un-echtheit dieses Messias und die Narretei seiner Anhänger zu beweisen, zielte jetzt genau in die entgegengesetzte Richtung. Ein derart plötzliches Umschlagen ist nicht so ungewöhnlich, wie man vielleicht meint. Das Temperament, das der leidenschaftlichen Überzeugung bedarf, wird kaum den Mittelweg einschlagen. Die Einstellung des »Nichts-im-
Übermaß«, die die Griechen in Ehren hielten (auch wenn es ihnen oft sehr schwer fiel, diese bewundernswerte Maxime in die Tat umzusetzen), stand in schroffem Gegensatz zum hebräischen Temperament. Paulus war geradezu umgepolt.
Wenn er schon nicht der Erwählte Gottes sein konnte, so war er sich doch sicher, zur messianischen Gestalt berufen zu sein – zu jemand, der allen nichtjüdischen Völkern die 124
Wahrheit verkünden würde. Eine verblüffende Überheblichkeit, die aber nur der Überheblichkeit seines Volkes entspricht. Welches andere Volk, betrachtet man die Universal-geschichte, hat behauptet, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein? Francis Bacon schrieb: »Was ist Wahrheit? fragte Pilatus höhnisch, doch blieb er nicht, die Antwort abzuwarten.« Bischof Andrews kam in einer Predigt von 1613 einer Erklärung von Pilatus’ Verhalten wohl näher. »Pilatus fragte: Quid est veritas? Aber gleich darauf nahm etwas anderes ihn gefangen, und so erhob er sich und ging seiner Wege, bevor er die Antwort hatte. Er verdiente es nicht, die Wahrheit zu erfahren.« Der letzte Satz ist ungerecht.
Pilatus hatte alle Hände voll zu tun. Paulus hingegen war kein römischer Beamter, an dessen Energie und Zeit ständig Ansprüche gestellt wurden. Er dürfte das einfache Leben gelebt haben, das heute noch Millionen der bäuerlichen Bevölkerung führen. In den meisten Teilen des römischen Reiches waren Brot und Olivenöl billig. Diese gesunden Grundnahrungsmittel wurden durch Früchte oder Gemüse der Saison ergänzt; dazu kamen Fisch (was vom jeweiligen Gebiet und von der Jahreszeit abhing), im Winter eingesalzener Fisch und, sofern es kein Frischgemüse gab, getrock-nete Bohnen aller Art. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« – gewiß nicht, aber in vielen modernen Gesellschaften hat der Mensch vergessen, daß er, zumindest materiell gesehen, kaum mehr als Brot braucht. Die Wendungen, die
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