Die Reisen des Paulus
den Brief ausführlich, doch selbst ein kleiner Auszug genügt, um uns eine gewisse Vor-119
stellung von diesem Bekehrungserlebnis zu vermitteln. Ra-tisbonne hatte zufällig eine Kirche betreten, nicht aber, um zu beten, sondern nur, um sich ein wenig darin umzusehen.
»Die Kirche San Andrea war ärmlich, klein und leer; es war wohl niemand weiter anwesend. Kein Kunstwerk fesselte meine Aufmerksamkeit, und ich ließ meine Augen mecha-nisch im Innern umherschweifen, ohne daß mich irgend etwas besonders gefesselt hätte. Ich kann mich nur noch an einen schwarzen Hund erinnern, der vor mir hin und her lief, während ich meinen Gedanken nachhing. Plötzlich war mir der Hund verschwunden, die ganze Kirche war mir verschwunden, ich sah nichts mehr …« Dann beschreibt er die blendend helle Offenbarung, die ihn überkam, und seine geistige Verfassung, als ihn ein Freund vom Boden auf-hob, wo er bewußtlos und in Tränen gebadet gelegen hatte:
»Ich wußte nicht, wo ich war, noch, wer ich war, ob Alphonse oder jemand anders. Ich fühlte mich verändert und glaubte, ich sei ein anderer. Ich suchte mich in mir selbst und fand mich nicht. Im tiefsten Inneren meiner Seele fühlte ich ein Aufflammen hellster Freude. Ich konnte nicht sprechen, und ich hatte auch nicht das Verlangen, über das Geschehene zu reden … Mir war, als käme ich aus einem Grabe, einem Ab-grunde der Finsternis; jetzt aber war ich lebendig, wahrhaft lebendig. Doch weinte ich, denn auf dem Grunde jener Tiefe sah ich das ungeheure Elend, aus dem ich durch übergro-
ße Gnade errettet worden war. Mir schauderte bei dem Gedanken an meine Missetaten, betäubt, gerührt, überwältigt von der Verwunderung und Dankbarkeit.«
William James fährt fort, solche Fälle ließen sich »mit leichter Mühe ins Endlose vermehren«, außerdem seien sie 120
»so offenkundig, daß Zweifel daran nicht möglich ist«. Kurz vor seinem Tode schrieb John Wesley*: »Allein in London fand ich 652 Anhänger unserer Richtung, die sich über ihr Erlebnis ganz klar waren und an deren Zeugnis zu zweifeln ich keinen Grund hatte. Sie alle erklärten ausnahmslos, sie seien plötzlich von der Sünde erlöst worden, die Wandlung habe sich in einem Augenblick vollzogen. Hätte die Hälfte von ihnen oder ein Drittel oder auch nur einer unter zwanzig erklärt, bei ihnen sei der Prozeß ein allmählicher gewesen, so würde ich es geglaubt haben; ich hätte dann gemeint, bei manchen vollziehe sich die Heiligung allmählich, bei anderen plötzlich. Aber da ich in einem so langen Zeitraum schlechterdings niemanden das habe bezeugen hören, muß ich annehmen, die Heiligung sei gewöhnlich, wenn nicht immer ein plötzlicher Vorgang.«
Der Photismus, die blendend helle Lichterscheinung, die Paulus sah, taucht auch bei anderen Bekehrungserlebnissen auf. Darüber liegen uns zahlreiche, von Psychologen gesam-melte Berichte vor, so viele, daß die simple Erklärung, Paulus sei eben Epileptiker gewesen, kaum stichhaltig ist. Einer von Professor Starbucks Berichterstattern schrieb: »Ich habe das durchgemacht, was man unter Bekehrung versteht.
Ich erkläre sie mir so: Der betreffende Mensch treibt seine Ge-fühle bis auf den Höhepunkt (Hervorhebung von mir. E. B.), unterdrückt aber zur selben Zeit ihre physischen Äußerungen: einen schnelleren Pulsschlag usw., und dann plötzlich gibt er ihnen die volle Herrschaft über den Körper. Das Nachlassen der Spannung ist etwas Wundervolles, und die
* Stifter der Methodisten, geb. 1703, gest. 1791 (A. d. Ü.) 121
angenehmen Wirkungen der Erregung werden im höchsten Maße empfunden.«
Bei Paulus kann kein Zweifel daran bestehen, daß seine Gefühle bis zu einem abnormen Grad gespannt waren. Der Zorn, mit dem er eine relativ harmlose Sekte verfolgte, zeugt von seiner emotionellen Verstrickung. Man kann den Worten John Pollocks in seiner Biographie The Apostle kaum zustimmen. Dort heißt es über Paulus: »Bis zu seiner Bekehrung stand er den Worten Jesu gleichgültig gegenüber.«
In Wirklichkeit war er ganz offensichtlich so beeindruckt von dem, was er gehört und gesehen hatte, so sehr in seinem konventionellen Glauben erschüttert, daß er »seine Gefüh-le bis auf den Höhepunkt trieb«. Bei späteren Bekehrungen, zu welchem Zweig des Christentums auch immer, könnte man durchaus argwöhnen, die Bekehrten seien von der Gesellschaft beeinflußt worden, in der sie lebten: durch frühe Schulung oder religiöse Unterweisung oder durch die Kirchen,
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