Die Reisen Des Paulus
der Apostelgeschichte geht nicht hervor, daß er zu diesem frühen Zeitpunkt schon Neubekehrte gewinnen konn-te. Die lächelnde Gleichgültigkeit dieser Stadt erboste ihn.
Überall marmorne Götter und Göttinnen, viele in grellen Farben bemalt. Opfergaben verbrannten auf den Altären, Weihrauchschwaden drangen aus den Tempeln, an kleinen Schreinen brachten Menschen ihre eigenen Opfergaben dar, priapische Statuen mit stark betonten Phalli (die von denen, die vorübergingen, zärtlich und spaßhaft berührt wur-273
den) standen neben Statuen von nackten Frauen – Götzen, heidnisches Blendwerk! Überall die flimmernde Atmosphä-
re der Skepsis. Man glaubte eigentlich an gar nichts, ausgenommen das Leben selbst. Seltsam, daß Paulus, der in Tarsus aufgewachsen und von Kindheit an mit dem Heidentum vertraut war, so heftig auf diese Umgebung reagierte. Vielleicht wurde sogar seine Selbstgewißheit von der unerschüt-terlichen Sicherheit der Athener untergraben.
Wie viele andere, wie die Philosophen, Gelehrten, Studenten und Müßiggänger, »gerichtet auf nichts anderes, als etwas Neues zu sagen oder zu hören«, verwickelte sich Paulus auf der Agora, dem Marktplatz, in Streitgespräche. Auf der Agora fanden nicht nur kaufmännische, sondern auch geistige Transaktionen statt. Selbstverständlich traf Paulus hier auf Mitglieder der damals führenden philosophischen Richtungen, auf Stoiker und Epikuräer. Bis zum heutigen Tag lassen sich im menschlichen Denken stoische und epikuräische Züge finden. Zwar gab es bei den Stoikern, wie später bei den Christen auch, verschiedene Richtungen, doch sie alle behaupteten, der Mensch besäße eine unsichtbare Entität, die Seele. Sie hat ihre Heimat nicht auf der Erde, sondern im All – im Licht der Sonne oder im ewigen Schweigen der Sterne. Der Mensch braucht den Tod nicht zu fürchten. Denn entweder geht er ins Universum ein, in den Zustand der Bewußtlosigkeit, in dem er auch vor der Geburt schwebte, oder er wird neu geboren im Bewußtsein des Gottes, der alles geschaffen hat. E. H. Blakeney umreißt in seinem Classical Dictionary die Prinzipien der Stoiker wie folgt: »Ihr Name leitet sich von der ›Bunten Halle‹ in Athen ab, von der Stoa (wörtlich: Säulenhalle) … Der Stoi-274
zismus ist hauptsächlich ein großes ethisches System. In diesem tritt die Philosophie an die Stelle der Religion; und diese Philosophie besteht darin, Tugend zu üben und Weisheit als ein praktisches Interesse zu setzen. Den Stoikern zufolge besteht die Tugend aus (1) absolutem Urteil, (2) absoluter Beherrschung der Begierden, (3) absoluter Kontrolle der Seele über den Schmerz, (4) absoluter Gerechtigkeit. Der Hauptakzent des Systems liegt auf der Pflicht …« Nichts davon dürfte Paulus ungewohnt geklungen haben. Die Stoiker ihrerseits waren einigermaßen vertraut mit den paulini-schen, christlich-jüdischen Gedanken zur Ethik. Nur diesen Menschengott kannten sie gar nicht. So bewundernswert der Stoizismus auch war, er wies einen entscheidenden Unterschied zur Paulinischen Botschaft auf. Stoizismus bedeutete Annehmen, Sich-Fügen. Er hatte viel mit dem Kismet der Moslems gemeinsam – man anerkennt etwas Vorgege-benes, dem der Mensch nicht zu entrinnen suchen, sondern dem er mutig ins Auge blicken soll. Paulus sagte dagegen, daß man die Welt verändern könne, daß der Mensch durch den Glauben an Christus Gewalt über sein Schicksal habe.
Und eins vor allem: Gott liebte die Menschen. Der Stoizismus hatte geistigen Adel, aber, genau betrachtet, auch eine gewisse Leere.
Der Epikuräismus wiederum war keine so platte Sache, wie uns manche Autoren glauben machen wollen. Er baute vor allem auf der Idee auf, daß das wichtigste Lebensziel die Glückseligkeit sei. Viele Anhänger Epikurs verfälschten dies Prinzip, und in späteren Jahrhunderten wurde es gröblich mißverstanden. Die Lehre dieses höchst bemerkenswer-ten Mannes hatte nämlich so gut wie nichts mit der bloßen 275
Sinneslust zu tun. Epikur wurde 341 v. Chr. auf der Insel Samos geboren und eröffnete 306 v. Chr. seine Schule zu Athen. Das höchste Gut, die Glückseligkeit, läßt sich nur durch Ruhe der Seele erlangen. Und diese Ruhe der Seele kommt nur zustande durch Übung der Tugend. Die Stoiker sahen die Tugend als Selbstzweck, Epikur galt sie als Mittel zum Zweck. »Ruhe der Seele und unerschütterliches Vertrauen« empfahl er, und er ergänzte: »Eine richtige Vorstellung von der Lust führt zum richtigen Leben, denn
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