Die Reisen Des Paulus
besessen von der Vision einer anderen Welt, aber es steht kaum zu vermuten, daß ihn die herrliche Szenerie unberührt ließ. Seine Briefe weisen ihn als Dichter aus, als einen der größten Dichter der Weltliteratur, und sein Geist besitzt gewisse Züge, die an die seltsame Helligkeit und Klarheit Griechenlands erinnern. Soweit wir wissen, war er jetzt zum ersten Mal allein auf einer Missionsreise. Während jener »fehlenden Jahre« dürfte er allerdings auch oft einsam gewesen sein. Es ist zweifelhaft, ob ihm das viel ausmach-te, denn wirklich einsam konnte man ihn nicht nennen. Das geheimnisvolle Ereignis auf der Straße nach Damaskus hatte sein Leben von Grund auf verändert und ihm ein Be-wußtsein von der Allgegenwart Gottes eingegeben, das ihn nie verließ.
Das Schiff hielt höchstwahrscheinlich Westkurs, um in den Windschatten von Euböa zu kommen, jener langge-streckten, fischförmigen Insel, die die Nordwinde der Ägäis abfängt. Paulus fuhr auf einem Küstenfahrzeug, das Segel und Ruder hatte, denn ein reines Segelschiff konnte die Durchfahrt zwischen Euböa und dem griechischen Festland gar nicht bewältigen. Im Kanal von Euböa dürfte er die gewaltige Strömung gesehen haben, die hier eine Geschwindigkeit von 7 bis 8 Knoten hat. Und er wird die rasenden Wellen bei Chalkis gesehen haben, wo der Abstand zwischen Euböa und Attika nicht mehr als 43 Meter beträgt.
Nichts deutet darauf hin, daß Paulus mit Homer vertraut war, von seinen Mitpassagieren aber darf man es vermuten.
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Sie passierten die Bucht von Aulis. Und vielleicht wurde jetzt darüber gesprochen, daß die griechische Flotte, bevor sie zur Belagerung von Troja auslief, hier auf einen günstigen Wind warten mußte. Hier hatte sich Agamemnons Tochter der Göttin Artemis geopfert, damit die Flotte eine gute Fahrt hatte und unversehrt Troja erreichte. (Wo sie gestorben sein soll, steht jetzt eine kleine Kapelle, die dem heiligen Nikolaus geweiht ist.) Rechter Hand lag Böotien, eine Landschaft, deren Bewohner als ungebildet, bäurisch und stumpfsinnig galten. Diesen Ruf hatten sie nur, weil die Athener die Literatur beherrschten. Die Böotier waren nicht dumm, sie waren schlau und durchtrieben. Hören wir Christopher Wordsworth: »Die Böotier ersannen einen besonders schlauen politischen Schachzug, indem sie sich Euböa ganz alleine vorbehielten … Damit war der athenische Handel draußen, sie hatten selbst den Schlüssel in der Hand.
Diesen Weg nahm das Gold von Thasus, dazu die thessalischen Pferde und das mazedonische Bauholz, von dort aus gelangten sie erst nach Piräus.« Doch das gehörte der Vergangenheit an, lag weit zurück – vor dem Aufstieg Roms, vor der Besetzung Griechenlands durch die römischen Legionen. Paulus lebte in einer Welt jenseits der Zeit. Seine Gedanken kreisten um die große Wende, um den Beginn einer neuen Ära, in der die Zeit stillstand oder nicht mehr ins Gewicht fiel. Alte Sagen dürften ihm wenig oder gar nichts bedeutet haben. Doch Athen, die grandiosen Gebäude auf dem Parthenon, die gewaltige Athene-Statue, an der sich die Seeleute orientierten – all das muß ihn doch beeindruckt haben. Die kleineren Städte, die er kannte – Beröa, Lystra, Tarsus und selbst Antiochien – können ihn nicht auf das 272
Wunder Athen vorbereitet haben, das Denkmal und Mahnmal aller Zeiten, die Heimat der erlauchtesten Geister des Mittelmeers. Selbst jetzt noch, fünfhundert Jahre nach der Hochblüte unter Perikles, schickte jeder Römer, der es sich leisten konnte, seinen Sohn nach Athen, damit ein wirklich kultivierter Mann aus ihm wurde. Sechzig Meter über der Ebene ragte die Akropolis auf, schimmernd in herrlichem Marmor, aus dem athenischer Genius eine der größten architektonischen Leistungen der Welt gebildet hat – Bauten, denen die Römer nacheiferten und denen man noch heute nacheifert. Die Stadt erfüllte den Betrachter mit Staunen und Verwirrung. Paulus war in seiner Zuversicht erschüttert. Bei den Begegnungen mit den Athenern trat er denn auch nicht so glänzend auf wie sonst. »Selbst ein Jude kann in Athen kein Geld verdienen«, so hieß es hier. Die Athener mit ihrem beweglichen Geist konnten von anderen Nationen eigentlich nichts lernen, schon gar nicht, was Kom-merzielles, handwerkliche Meisterschaft und Künstlertum betraf. Trotzdem gab es hier eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge. Paulus machte sich ans Werk. »Und er redete zu den Juden und Gottesfürchtigen in der Synagoge …«
Aus
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