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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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dies nicht von ihm ab. Sein Pferd wollte im wilden Wettkampf nicht hinter dem Hengst zurückbleiben. Betley umschlang den Hals des Tieres. Ihm war, als würde er jeden Moment erschlagen werden.
Sie rasten durch den Wald, über eine große Lichtung, einen Hang hinauf, holten die Frau des Farmers ein und stiegen dann hinab in die große Elchschlucht.
Hier sprang der Förster vom Pferd und lief, begleitet von dem Farmer, einen schmalen Pfad entlang, der zu einer lichten Kiefernschonung führte.
Der Journalist warf seiner Stute die Zügel über die Kruppe und eilte Miller hinterher. Während er lief, vermerkte er automatisch, wie sehr sich der Förster verändert hatte. Keine Spur mehr von der früheren Unentschlossenheit und Apathie. Millers Bewegungen waren leicht und gesammelt, ohne jedes Zögern wechselte er die Richtung, übersprang er Gräben, lief er gebückt unter niedrigen Zweigen hindurch. Er bewegte sich, als sei die Spur eines Otarks durch einen fetten Kreidestrich vorgezeichnet.
Eine Zeitlang konnte Betley das Tempo mithalten, dann fiel er zurück. Sein Herz hämmerte in der Brust, er rang nach Luft und fühlte ein Brennen in der Kehle. Er wurde langsamer, verlor Miller aus den Augen, dann hörte er plötzlich vorn Stimmen.
An der schmalsten Stelle der Schlucht stand der Förster, das Gewehr auf einen dichten Nußstrauch gerichtet. Hier war auch der Vater des Mädchens.
Laut und deutlich sagte der Förster: »Laß sie frei. Sonst töte ich dich.« Er sprach in Richtung des Gebüschs.
Zur Antwort ertönte ein Brüllen, in das sich Kinderweinen mischte.
»Sonst töte ich dich«, wiederholte der Förster. »Ich werde mein Leben wagen, um dich aufzuspüren und zu töten. Du kennst mich.«
Wieder war ein Brüllen zu hören, dann eine Stimme, doch keine menschliche, es klang eher wie von einer Grammophonplatte, die Wörter waren alle zu einem zusammengezogen: »Und wenn ich sie freilasse, tötest du mich nicht?«
»Nein«, sagte Miller. »Dann kommst du mit dem Leben davon.«
Im Gebüsch wurde es still. Man hörte nur Schluchzen.
Dann knackten Zweige, etwas Weißes wurde sichtbar. Das strichdünne Mädchen trat aus dem Gebüsch. Eine Hand war blutig, sie hielt sie mit der anderen.
Schluchzend und ohne aufzublicken, ging sie schwankenden Schrittes an den drei Männern vorbei nach Hause.
Die drei folgten ihr mit dem Blick.
Der schwarzbärtige Farmer sah Miller und Betley an. Seine geweiteten Augen hatten so etwas Stechendes, daß der Journalist ihrem Blick nicht standhielt und den Kopf sinken ließ.
    Über Nacht blieben sie in einem kleinen, verlassenen Waldhüterhaus. Bis zum See mit der Insel, auf der sich einst das Versuchszentrum befunden hatte, waren es nur noch ein paar Wegstunden, aber Miller lehnte es ab, weiterzureiten.
    Es war schon der vierte Tag ihrer Exkursion, und der Journalist spürte, daß sein erprobter Optimismus Risse bekam. Wenn ihm früher etwas Unangenehmes widerfuhr, hatte er immer einen Spruch parat: »Und trotzdem ist das Leben eine verdammt schöne Sache.« Aber jetzt begriff er, daß dieser Spruch seine Wirkung nur tat, wenn man in einem komfortablen Zug von einer Stadt in die andere reiste oder durch eine Glastür in das Vestibül eines Hotels trat, um dort jemand Prominentes zu treffen. Im Falle des Farmers war dieser Spruch höchst unpassend.
    Der ganze Landstrich hier schien von einer Krankheit infiziert zu sein. Die Leute waren apathisch und wortkarg. Selbst die Kinder lachten nicht.
    Einmal fragte er Miller, warum die Farmer nicht von hier weggingen.
Miller erklärte ihm darauf, alles, was die Einheimischen hier besäßen, sei ihr Grund und Boden. Und den zu verkaufen sei zur Zeit nicht möglich. Er habe wegen der Otarks seinen Wert verloren.
»Aber warum fahren Sie selbst nicht weg?« fragte Betley.
Der Förster biß sich sinnend auf die Lippen, dann antwortete er: »Trotz allem bin ich hier irgendwie von Nutzen. Die Otarks fürchten mich. Ich besitze nichts, keine Familie, kein Haus. Mir kann man nicht beikommen. Mit mir muß man sich auseinandersetzen. Aber das ist riskant.«
»Die Otarks haben also Achtung vor Ihnen?«
Miller hob verständnislos den Kopf.
»Die Otarks? Aber nein, wie kommen Sie darauf? Die können keine Achtung empfinden. Sie sind doch keine Menschen. Sie empfinden nur Angst. Und das ist richtig so. Denn meine Aufgabe ist es, sie zu töten.«
Die Otarks wußten das und nahmen das Risiko dennoch auf sich. Beide, der Förster wie der Journalist, fühlten das

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