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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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genau. Sie hatten den Eindruck, als schließe sich um sie herum allmählich ein Ring. Dreimal hatten die Otarks schon auf sie geschossen. Ein Schuß war aus dem Fenster eines verlassenen Hauses abgegeben worden, die anderen beiden aus dem Wald. Nach allen drei Fehlschüssen entdeckten sie »Bärenspuren«. Überhaupt stießen sie immer öfter auf die Spuren der Otarks.
In dem Waldhüterhäuschen gab es einen kleinen, aus Stein gemauerten Herd, sie machten Feuer und bereiteten das Abendessen zu. Betrübt vor sich hin schauend, rauchte der Förster seine Pfeife.
Die Pferde hatten sie gegenüber angebunden, sie waren durch die offene Tür des Häuschens zu sehen.
Verstohlen musterte der Journalist den Förster. Von Tag zu Tag war seine Achtung für diesen Mann gestiegen. Miller war ungebildet und hatte sein ganzes Leben in den Wäldern verbracht. Gelesen hatte er so gut wie nichts, und man hätte wohl keine zwei Minuten lang mit ihm ein Gespräch über Kunst aufrechterhalten können. Dennoch wußte der Journalist, daß er sich keinen besseren Freund wünschen konnte. Der Förster urteilte stets gesund und selbständig; wenn er nichts zu sagen hatte, schwieg er. Anfangs hatte Betley ihn nervös gefunden und auffallend lasch, jetzt wußte er, daß dies von der lange währenden Sorge um die Bevölkerung dieses großen verödeten Landstriches herrührte, dem die Gelehrten das Unglück beschert hatten.
Miller kränkelte in den letzten zwei Tagen. Ihn plagte das Sumpffieber. Von der hohen Temperatur hatte sich sein Gesicht mit roten Flecken bedeckt.
Das Feuer im Herd knisterte, plötzlich fragte der Förster: »Sagen Sie, ist er jung?«
»Wer?«
»Dieser Wissenschaftler. Fiedler.«
»Ja, er ist jung«, antwortete der Journalist. »Dreißig ungefähr. Älter kaum. Warum fragen Sie?«
»Schlecht, daß er jung ist«, sagte der Förster.
»Warum?«
Miller schwieg.
»Das sind die Begabten, die sortieren sie gleich aus und bringen sie isoliert unter. Sie werden verhätschelt. Dabei kennen sie das Leben überhaupt nicht, können nicht wie Menschen empfinden.« Er seufzte. »Zuallererst muß man Mensch sein, erst dann Wissenschaftler.«
Er erhob sich.
»Zeit zum Schlafen. Wir müssen abwechselnd Wache halten, sonst murksen uns die Otarks die Pferde ab.«
Dem Journalisten fiel die erste Wache zu.
Die Pferde zupften sich Heu aus dem großen Vorjahrsschober.
Betley setzte sich, das Gewehr über den Knien, auf die Schwelle der Hütte.
Die Dunkelheit senkte sich rasch herab wie eine Decke. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis. Der Mond ging auf. Der Himmel war klar und bestirnt. Einander zuzwitschernd, flog irgendwo da oben ein Schwarm kleiner Vögel vorüber, die, im Unterschied zu ihren größeren Artgenossen, aus Angst vor Raubvögeln nachts auf Fang zogen.
Betley erhob sich und machte einen Rundgang um die Hütte. Dichter Wald säumte die Lichtung, auf der das Häuschen stand, und darin lag die Gefahr. Zur Sicherheit überprüfte Betley, ob der Gewehrhahn gespannt war.
Er begann die Ereignisse der letzten Tage, die Gespräche, die Personen in seinem Gedächtnis zu ordnen und darüber nachzudenken, wie er von den Otarks berichten würde, sobald er in die Redaktion zurückgekehrt war. Dann ging ihm noch durch den Kopf, daß der Gedanke an die Rückkehr eigentlich ständig in seinem Unterbewußtsein lebte und alles, was er hier mitmachen mußte, in einem ganz besonderen Licht erscheinen ließ. Selbst als sie dem Otark nachsetzten, der das Mädchen entführt hatte, verlor er nie ganz die Gewißheit, daß es für ihn, wie unheimlich es hier auch sein mochte, eine Rückkehr gab.
Ich kann zurück, sagte er sich. Aber Miller? Und die anderen?
Dieser Gedanke war jedoch allzu grausam, als daß er sich hätte entschließen können, ihn jetzt zu Ende zu denken.
Er setzte sich in den Mondschatten des Häuschens und sann über die Otarks nach. Die Überschrift eines Zeitungsartikels fiel ihm ein: »Verstand ohne Güte.« Das kam dem nahe, was der Förster gesagt hatte. Für ihn waren die Otarks keine Menschen, weil sie kein »Mitgefühl« hatten, Verstand ohne Güte. Ist das möglich? Kann es Verstand ohne Güte überhaupt geben? Was hat Priorität? Ist Güte nicht eine Folge des Verstands? Oder umgekehrt? Es gilt als erwiesen, daß die Otarks ein besseres logisches Denkvermögen haben als die Menschen, daß sie befähigt sind, besser zu abstrahieren, daß sie ein besseres Vorstellungsvermögen und ein besseres Gedächtnis

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