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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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sondern einfach leer und unwirklich, als
wäre das hier kein Dorf, sondern Kulisse. Ja, dachte Candide, vielleicht sollten wir wirklich nicht runtergehen, aber die Füße schmerzen, und ein Dach überm Kopf wäre gar zu schön. Zumal es bald Nacht wird, essen müßte man ja auch… Den ganzen Tag sind wir durch den Wald geirrt, sogar Nawa ist erschöpft, sie hängt an meinem Arm und läßt keinen Augen
blick los.
»Also gut«, sagte er zögernd, »gehn wir eben nicht ‘runter.« »Gehn wir eben nicht ‘runter«, äffte ihn Nawa nach. »Und
wenn ich nun Hunger habe? Man kann doch nicht ständig
fasten. Ich hab seit dem Morgen nichts mehr gegessen… Und
deine Räuber – wenn du wüßtest, was für einen Hunger die mir
gemacht haben. Nein, laß uns ruhig ins Dorf runtergehn, was
essen; wenn’s uns dort nicht gefällt, können wir ja gleich wieder aufbrechen. Die Nacht heute wird warm werden, regnen
wird’s auch nicht… Nun komm schon, was stehst du noch
rum?«
Sie hatten kaum den Dorfrand erreicht, als sie auch schon
angerufen wurden. Neben dem ersten Häuschen saß, direkt auf
der grauen Erde, ein ebenso grauer, nahezu unbekleideter
Mensch. Er war im Halbdämmer fast nicht auszumachen,
verschmolz beinahe mit der Erde, und Candide konnte lediglich seine Silhouette erkennen, die sich vor dem Hintergrund
der hellen Hauswand abhob. »Wo wollt ihr hin?« fragte der
Mensch mit schwacher Stimme.
»Wir brauchen ein Nachtlager«, sagte Candide. »Und morgen
früh müssen wir zum Weiler. Wir haben uns verirrt.« »Ihr seid also von selbst gekommen?« fragte der Mensch trä
ge. »Das habt ihr gut gemacht, seid Prachtkerle… Kommt
ruhig näher, kommt nur, bei uns gibt’s eine Menge Arbeit,
Leute dagegen sind nur noch wenige hier…« Er brachte die
Worte kaum über die Lippen, so als würde er jeden Augenblick
einschlafen. »Arbeiten aber ist nötig, und wie nötig es ist…« »Du hast wohl nicht was zu essen für uns?« fragte Candide. »Wir haben jetzt…« Der Mensch gab einige Worte von sich,
die Candide bekannt vorkamen, obgleich er sie niemals vorher
gehört haben konnte. »Es ist gut, daß ein Junge gekommen ist,
denn ein Junge…« Und wieder folgten seltsame, unverständliche Worte.
Nawa zog Candide am Arm, doch er riß sich ärgerlich los. »Ich kann dich nicht verstehen«, sagte er zu dem Mann und
versuchte, ihn genauer zu erkennen. »Sag mir, ob du etwas zu
essen für uns hast.«
»Wenn ihr zu dritt wärt…«, sagte der Mann.
Nawa zog Candide aus Leibeskräften fort, und sie gingen ein
Stück zur Seite.
»Ist er krank, der Kerl?« fragte Candide aufgebracht. »Hast
du verstanden, was er da gemurmelt hat?«
»Was unterhältst du dich überhaupt mit ihm?« flüsterte Nawa.
»Er hat doch gar kein Gesicht! Wie kannst du mit ihm sprechen, wenn er gar kein Gesicht hat?«
»Wieso hat er kein Gesicht?« Candide sah sich verblüfft um.
Der Mann war nicht mehr zu sehen: Entweder war er fortgegangen oder eins geworden mit der Dämmerung.
»Na, ganz einfach«, sagte Nawa. »Er hat zwar Augen und
Mund, aber kein Gesicht.« Sie preßte sich unvermittelt an ihn.
»Er ähnelt einem Schatten«, sagte sie. »Natürlich ist er keiner,
sonst würde er riechen, aber insgesamt ähnelt er doch einem…
Laß uns zu einem anderen Haus gehn, bloß glaub nicht, daß
wir hier was zu essen bekommen.«
Sie schleppte ihn zum nächsten Haus, in das sie einen Blick
warfen. Alles hier war ungewöhnlich, es gab keine Betten, es
war leer, finster und ungemütlich, und auch die typischen
Wohngerüche fehlten. Nawa zog schnuppernd die Luft ein. »Hier hat’s überhaupt noch nie Essen gegeben«, sagte sie
voller Abscheu. »Da hast du mich ja in ein dämliches Dorf
geschleppt, Schweiger. Was wollen wir hier anfangen? Solche Dörfer hab’ ich mein Lebtag noch nicht gesehn. Kein Kinder
geschrei und auf der Straße keine Menschenseele.«
Sie gingen weiter. Unter ihren Füßen war kühler, feiner
Staub, und sie hörten ihre eigenen Schritte nicht. Auch fehlte
das Glucksen und Gestöhn, daß an den Abenden gewöhnlich
aus dem Wald drang.
»Er redete so seltsam«, sagte Candide. »Wenn ich darüber
nachdenke, kommt es mir so vor, als hätte ich diese Worte
schon mal gehört… Doch wann und wo – daran erinnere ich
mich nicht mehr…«
»Ich auch nicht«, sagte Nawa nach kurzem Schweigen. »Aber
du hast recht, Schweiger, ich hab’ diese Worte auch schon mal
gehört, vielleicht im Schlaf oder vielleicht in unserm Dorf,
nicht in dem, wo wir jetzt

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