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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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und mich in einer mondlosen Nacht
gepackt haben…«
Die Gegend wurde nun wieder hügliger, doch nahm die
Feuchtigkeit deswegen nicht ab, nur sauberer wurde der Wald.
Es gab keine Baumkronen mehr, keine verfaulten Äste, kein
verwesendes Lianengestrüpp. Das Grün ringsum war gelben
und orangenen Farbtönen gewichen. Die Bäume wuchsen
gerade, und der Sumpf, frei von Moos und Schlammhügeln,
machte einen ungewöhnlich glatten Eindruck. Verschwunden
war auch das Pflanzengewirr, man konnte zu beiden Seiten
weit sehen. Selbst das Gras am Wegrand wurde geschmeidiger
und saftiger, ein Hälmchen stand am andern, so als hätte sie
jemand sorgsam zusammengetragen und gepflanzt.
Nawa brach mitten im Satz ab, zog schnuppernd die Luft ein
und sagte geschäftig, während sie nach allen Seiten Ausschau
hielt: »Wo sollen wir uns denn hier verstecken? Hier gibt’s
doch nichts, wo man sich verstecken könnte…«
»Meinst du, hier würde jemand auftauchen?« fragte Candide. »Hier wimmelt’s bestimmt von Wesen, ich weiß bloß nicht,
von welchen… Es sind zwar keine Schatten, dennoch wär’s
besser, sich zu verstecken. Wir können es natürlich auch sein
lassen, sie sind sowieso schon sehr nah, und es gibt ja gar kein
Versteck. Laß uns am Wegrand stehenbleiben und Ausschau
halten…« Sie schnupperte erneut. »Ein eigenartiger Geruch,
nicht direkt gefährlich, trotzdem wär’ er besser nicht da…
Riechst du denn überhaupt nichts, Schweiger? Das stinkt doch
wie modrige Gärmasse. Als hättest du einen Topf fauliger,
schimmelnder Gärmasse vor der Nase… Ach, da sind sie ja!
Na, die sind zum Glück ziemlich klein, ist nicht weiter
schlimm, die hast du im Nu vertrieben… Ksch-ksch-ksch!« »Sei still!« sagte Candide und strengte die Augen an. Anfangs schien es ihm, als kröchen ihm auf dem Pfad weiße
Schildkröten entgegen. Dann aber sah er Tiere, wie er sie
bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie besaßen Ähnlichkeit mit riesigen undurchsichtigen Amöben oder jungen
Baumschrecken, nur daß Schnecken keine Scheinfüßchen
hatten und trotz allem größer waren. Es war eine ganze Anzahl
solcher Wesen, und sie krochen ziemlich schnell im Gänsemarsch hintereinanderher. Ihre Scheinfüße setzten sie dabei
geschmeidig und im gleichen Rhythmus voran.
Bald waren sie ganz nah herangekommen, weiß und glänzend, und nun spürte auch Candide den scharfen, unbekannten
Geruch. Er trat vom Pfad an den Wegrand zurück und zog
Nawa hinter sich her. Die Schneckenamöben krochen eine
nach der andern an ihnen vorbei, ohne ihnen auch nur die
geringste Beachtung zu schenken. Es waren insgesamt zwölf,
und die letzte, die zwölfte, erhielt von Nawa, die sich nicht
beherrschen konnte, einen leichten Fußtritt. Die Schnecke zog
hastig das Hinterteil ein und bewegte sich nun in Sprüngen
vorwärts. Nawa geriet in Entzücken und wollte schon hinterhereilen, um nochmals zuzustoßen, doch Candide hielt sie an
den Kleidern fest.
»Die sind aber auch zu spaßig!« sagte Nawa. »Und sie kriechen, als würden Leute den Pfad entlanggehn… Wo die wohl
hin wollen? Gewiß in dieses eigenartige Dorf, Schweiger,
wahrscheinlich sind sie von dort und wollen jetzt zurückkehren, ohne zu wissen, daß in ihrem Dorf schon die Besetzung
stattgefunden hat. Sie werden eine Weile um das Wasser herumstehen und dann kehrtmachen. Wo sollen sie bloß hin, die
Ärmsten? Vielleicht machen sie sich auf die Suche nach einem
anderen Dorf? – He, ihr!« rief sie. »Geht nicht weiter! Euer
Dorf steht nicht mehr, es gibt nur noch einen See!«
»Schweig«, sagte Candide, »und laß uns weitergehn. Sie verstehen deine Sprache doch gar nicht, du schreist umsonst.« Sie setzten ihren Weg fort. Der Pfad war jetzt von den
Schnecken leicht glitschig. Wir sind uns begegnet und haben
uns getrennt, dachte Candide. Sind uns begegnet und aneinander vorbeigegangen. Und ich war es, der Platz gemacht hat.
Ich, nicht sie. Dieser Umstand schien ihm plötzlich sehr wichtig. Sie sind klein und wehrlos, ich dagegen bin groß und stark,
dennoch bin ich vom Pfad heruntergegangen und hab’ sie
vorbeigelassen und denke jetzt über sie nach, während sie
vorübermarschierten und wahrscheinlich keinen Gedanken an
mich verschwenden. Weil sie nämlich im Wald zu Hause sind
und ihnen im Wald vieles begegnet. Wie uns im Haus Schaben,
Wanzen und Asseln begegnen oder ein hirnloser Schmetterling,
der zum Fenster hereinfliegt. Oder eine Fliege, die wild gegen
die Scheibe stößt. Dabei stimmt es gär

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