Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
der gleichen Stärke… Einmal kam mit furchtbarem Geheul ein junger Hippozet aus dem Nebel gekrochen, mehrfach tauchten Schatten auf und stürzten, weißliche Streifen erkaltenden Dampfs zurücklassend, unverzüglich in den Wald hinein. Der bewegliche violette Nebel aber sog ein und spie aus, sog ein und spie aus, unablässig und regelmäßig wie eine Maschine.
    Hinkebein hat gesagt, daß die Stadt auf einem Hügel steht. Vielleicht ist das hier die Stadt, vielleicht nennen sie das Stadt! Ja, bestimmt ist das die Stadt. Doch worin liegt ihre Bedeutung? Wozu existiert sie? Und dieses seltsame Auf und Ab… Irgendwas Ähnliches hab’ ich erwartet… Ach Unsinn, nichts hab’ ich erwartet. Lediglich über die Herren der Stadt hab’ ich mir Gedanken gemacht, doch wo sind sie – diese Herren?
    Candide schaute zu den Schatten hin. Sie standen noch immer in der gleichen Haltung da, die Münder weit geöffnet. Vielleicht irre ich mich, dachte Candide. Vielleicht sind sie die Herren. Wahrscheinlich irre ich mich stets und ständig. Ich hab’ das Denken hier völlig verlernt. Und wenn mir hin und wieder doch mal ein paar Gedanken kommen, dann erweist sich, daß ich außerstande bin, sie miteinander in Verbindung zu bringen… Keine einzige Schnecke hat bisher den Nebel wieder verlassen. Frage: Weshalb ist noch keine einzige Schnecke aus dem Nebel gekommen? – Aber nein, so wird das nichts. Ich muß der Reihe nach vorgehen. Ich bin auf der Suche nach dem Ursprung der vernunftbegabten Tätigkeit… Stimmt nicht, stimmt wieder nicht. Mich interessiert diese Tätigkeit nicht im geringsten. Ich suche einfach jemanden, der mir helfen kann, nach Hause zurückzukehren. Der mir helfen kann, tausend Kilometer Wald zu überwinden. Der mir wenigstens sagen kann, in welcher Richtung ich gehen muß… Die Schatten müssen doch Herren haben, und ich suche diese Herren, suche den Ursprung der vernunftbegabten Tätigkeit. Candide lebte ein wenig auf: Das klang immerhin logisch. Beginnen wir also nochmals von vorn, durchdenken alles ruhig und ohne Hast. Hast ist jetzt fehl am Platz, jetzt ist genau der Zeitpunkt, alles noch mal in Ruhe zu durchdenken. Beginnen wir ganz von vorn. Die Schatten müssen Herren haben, weil sie weder Menschen noch Tiere sind. Folglich sind sie von irgendwem erschaffen. Wenn sie keine Menschen sind… Doch halt, wieso eigentlich sind sie keine Menschen? Er rieb sich die Stirn. Diese Frage hab’ ich doch schon geklärt. Vor langer Zeit bereits, noch im Dorf. Ich hab’ sie sogar zweimal geklärt, weil ich beim erstenmal die Lösung vergessen hatte. Jetzt dagegen hab’ ich die Beweise vergessen…
    Er schüttelte heftig den Kopf, und Nawa zischte ihn leise an. Er verstummte und lag einige Zeit unbeweglich da, das Gesicht ins nasse Gras gepreßt.
    …Und wieso sie keine Tiere sind, wußte ich ebenfalls schon mal… Die enorm hohe Temperatur… Aber nein, das war’s nicht… Plötzlich wurde er sich voller Entsetzen bewußt, daß er sogar vergessen hatte, wie die Schatten aussahen. Er erinnerte sich nur noch an ihre glühenden Körper und an einen scharfen Schmerz in den Handflächen. Er drehte den Kopf und schaute die Schatten an. Jawohl. Ich darf nicht nachdenken, nachdenken ist schädlich für mich, gerade jetzt, da ich eigentlich gründlicher nachdenken müßte als jemals zuvor. ›Es ist Zeit, was zu essen‹ – das hast du mir schon oft gesagt, Nawa; ›übermorgen gehn wir fort‹ – das ist alles, was ich denken kann. Aber ich bin doch bereits fort! Ich bin hier! Und gehe jetzt in die Stadt. Mein ganzes Gehirn ist von Wald überwuchert. Ich begreife überhaupt nichts… Ach ja, jetzt weiß ich’s wieder. Ich bin in die Stadt aufgebrochen, damit sie mir alles erklären: Was es mit der Besetzung auf sich hat, mit den Schatten, mit der Großen Bodenauflockerung, mit den Seen und den Ertrunkenen darin… Aber das ist wohl alles nur Betrug, auch dabei haben sie gelogen – ich darf niemandem glauben… Ich hab’ gehofft, in der Stadt würde man mir erklären, wie ich nach Hause komme, denn der Alte behauptet immer, die in der Stadt wüßten alles. Es ist doch völlig unmöglich, daß sie dort nichts von unsrer Biostation wissen, von der Verwaltung. Selbst Hinkebein hat die ganze Zeit von irgendwelchen Teufelsfelsen und fliegenden Dörfern geschwafelt… Aber kann der violette Nebel denn irgend etwas erklären? Wenn diese lila Wolke etwa die Herren verkörperte, das wäre schrecklich! Doch was heißt, »es

Weitere Kostenlose Bücher