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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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nicht, daß Fliegen gegen
die Scheibe stoßen, sie jedenfalls bilden sich ein zu fliegen.
Wie ich mir einbilde zu laufen. Und das nur, weil ich die Beine
vorwärts bewege… Gewiß biete ich einen komischen Anblick
für einen Außenstehenden und… wie soll ich es ausdrücken…
wohl auch einen kläglichen… mitleiderregenden… Was richtiger ist…
»Jetzt muß bald ein See kommen«, sagte Nawa. »Laß uns
schneller gehn, ich möchte trinken und essen. Vielleicht kannst
du mir ein paar Fische fangen…« Sie legten einen Schritt zu.
Das Dickicht begann. Nun gut, dachte Candide, ich habe also
Ähnlichkeit mit einer Fliege. Hab’ ich auch Ähnlichkeit mit
einem Menschen? Karl kam ihm in den Sinn und die Tatsache,
daß Karl so gar keine Ähnlichkeit mit Karl besessen hatte. Ist
sogar sehr gut möglich, dachte er gelassen. Durchaus möglich,
daß ich ganz und gar nicht jener Mensch bin, der damals mit
dem Hubschrauber abgestürzt ist. Vor ich weiß nicht wieviel
Jahren. Bloß ist dann unverständlich, warum ich gegen das
Glas schlage. Karl, als ihm das widerfahren war, hat bestimmt
nicht mehr gegen das Glas geschlagen. Das wird ja seltsam werden, wenn ich plötzlich in der Biostation auftauche und sie mich zu Gesicht kriegen: Gut, daß mir diese Idee gekommen ist. Darüber muß ich lange und gründlich nachdenken. Gut auch, daß noch viel Zeit ist und ich die Biostation nicht so bald
erreiche…
Der Weg gabelte sich. Der eine Pfad führte offenbar zum See,
der andere bog seitlich ab, strebte steil aufwärts.
»Nicht dorthin«, sagte Nawa, »der führt ja nach oben, ich
aber will trinken.«
Der Weg zum See wurde immer schmaler, ähnelte mehr einer
Furche und endete schließlich im Schilf. Nawa blieb stehen.
»Weißt du Schweiger«, sagte sie, »vielleicht sollten wir doch
nicht zu diesem See gehen. Er gefällt mir nicht, dieser See,
irgendwas stimmt da nicht. Meiner Ansicht nach ist das nicht,
mal ein richtiger See, außer Wasser gibt’s dort bestimmt noch
eine Menge anderes Zeug…«
»Wasser gibt es aber?« fragte Candide. »Du wolltest doch
trinken. Ich selbst wär’ auch nicht dagegen…«
»Ja, Wasser wird’s geben«, sagte Nawa unwillig, »aber gewiß
nur warmes. Schlechtes Wasser, unsauberes… Weißt du was,
Schweiger, bleib du hier stehen, du machst zuviel Lärm beim
Laufen, ich kann kaum was hören, so viel Krach machst du.
Bleib du hier stehen und wart auf mich, ich ruf dich dann, mit
dem Ruf des Springbocks. Weißt du, wie ein Springbock ruft?
Genauso werd’ ich rufen. Du aber bleib hier stehen, noch
besser, setz dich hin…«
Sie hauchte ins Schilf ein und war verschwunden. Und erst da
kam Candide die dumpfe, wattige Stille zu Bewußtsein, die
hier herrschte. Es gab weder das Getön der Insekten noch das
Seufzen und Stöhnen des Sumpfs, kein Waldtier gab Laut, und
unbeweglich stand die stickig-feuchte Luft. Es war nicht die
trockene Stille des seltsamen Dorfes, dort war es leise gewesen, wie das nachts hinter Theaterkulissen zu sein pflegt. Hier aber herrschte eine Stille wie unter Wasser. Candide ging vorsichtig in die Hocke nieder, riß einige Grashalme aus, zerrieb sie zwischen den Fingern und stellte zu, seiner Verblüffung fest, daß die Erde genießbar sein mußte. Er riß ein Grasbüschel mitsamt der Erde heraus und begann zu essen. Das Gras stillte Hunger und Durst gleichermaßen gut, es war kühl und vom Geschmack her leicht säuerlich. Käse ist das, dachte Candide. Jawohl, Käse… Was war Käse doch gleich? Es gab
Schweizer Käse, Schmelzkäse, Camembert. Seltsam… Lautlos tauchte Nawa aus dem Schilf auf. Sie setzte sich neben ihn und begann gleichfalls zu essen, hastig und akkurat.
Sie hatte auf einmal kugelrunde Augen.
»Gut, daß wir hier gegessen haben«, sagte sie schließlich.
»Willst du mal sehen, was das für ein See ist? Ich würd’ ihn
mir gern noch mal anschaun, aber allein hab’ ich Angst. Es ist
derselbe See, von dem Hinkebein immer erzählt, nur hab’ ich
immer geglaubt, er denkt sich das alles aus oder hätt’s geträumt, dabei ist alles wahr, obwohl ich das vielleicht auch bloß
geträumt hab’…«
»Komm, wir schaun’s uns an«, sagte Candide.
Der See war keine fünfzig Schritt entfernt. Candide und Nawa ließen sich auf schlammigem Boden zu ihm hinunter und
schoben das Schilf auseinander. Über dem Wasser lag eine
dicke weiße Nebelschicht. Das Wasser war warm, sogar heiß,
doch sauber und klar. Es roch nach Essen. Der Nebel wallte
langsam und gleichmäßig, und

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