Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
schon nach einer Minute verspürte Candide ein Schwindelgefühl. Im Nebel war jemand.
Menschen. Viele Menschen. Und alle waren sie nackt und
lagen völlig reglos auf dem Wasser. Der Nebel hob und senkte
sich in rhythmischen Abständen, wobei er die gelblichweißen
Körper mit den zurückgeworfenen Gesichtern bald bloßlegte,
bald verhüllte. Die Menschen dort schwammen aber nicht, sie
lagen auf dem Wasser wie am Strand. Candide schauderte. »Komm weg hier«, flüsterte er und zog Nawa am Arm. Sie
erklommen das Ufer und kehrten zum Pfad zurück.
»Das sind keine Ertrunkenen«, sagte Nawa. »Hinkebein hat
nicht das geringste begriffen. Sie haben hier einfach gebadet,
da muß sie ein heißer Quell getroffen und zu Tode gebrüht
haben… Wie furchtbar, Schweiger«, sagte sie nach kurzem
Schweigen. »Nicht mal sprechen möcht’ ich davon… Und wie
viele es waren, ein ganzes Dorf…«
Sie hatten die Stelle erreicht, wo sich der Weg gabelte, und
blieben stehen.
»Jetzt da hinauf?« fragte Nawa.
»Ja«, sagte Candide. »Jetzt da hinauf.«
Sie bogen rechts ein und stiegen den Hügel empor. »Und alles Frauen«, sagte Nawa. »Hast du das bemerkt?« »Ja«, sagte Candide.
»Das ist das Furchtbare daran, ich kann das absolut nicht begreifen. Vielleicht…«, Nawa sah Candide an, »vielleicht sind
es die Schatten – sie fangen sie aus allen Dörfern ein, treiben
sie zum See und kochen sie… Hör mal, Schweiger, warum sind
wir bloß aus unserm Dorf weg? Wären wir im Dorf geblieben,
dann hätten wir das alles nie zu Gesicht bekommen. Wir hätten
geglaubt, daß Hinkebein sich diese Geschichten ausdenkt, und
seelenruhig dahinlebt, aber nein, du mußtest ja in die Stadt…
Weshalb nur mußtest du unbedingt in die Stadt!«
»Ich weiß es nicht«, sagte Candide.
Viertes Kapitel
    Sie lagen in den Büschen am äußersten Waldrand und schauten durchs Blattwerk zur Hügelkuppe hinauf. Der Hügel war kahl, er stieg nicht allzu steil an, und auf seiner Kuppe saß wie eine Mütze eine Wolke violetten Nebels. Über dem Hügel erstreckte sich weit der Himmel, ein böiger Wind trieb graue Wolken vor sich her, kalter Regen fiel. Der violette Nebel jedoch stand unbeweglich, so als gäbe es nicht den geringsten Wind. Es war ziemlich kühl, ja direkt frisch, sie waren durchnäßt und fröstelten, ihre Zähne schlugen gegeneinander, doch war an Weggehen nun nicht mehr zu denken. Denn zwanzig Schritt von ihnen entfernt standen, hoch aufgerichtet wie Statuen und mit weitgeöffneten schwarzen Mündern, drei Schatten, die leeren Blicks gleichfalls zum Hügel emporschauten. Die Schatten waren vor fünf Minuten hier aufgetaucht. Nawa hatte sie gewittert und davonstürzen wollen, doch Candide hatte ihr mit der Hand den Mund zu gehalten, sie ins Gras zurückgedrückt. Inzwischen hatte sie sich ein wenig beruhigt, und wenn sie noch immer heftig zitterte, dann nicht mehr vor Angst, sondern vor Kälte. Sie starrte auch nicht die Schatten an, sondern hinauf zur Hügelkuppe.
    Auf dem Hügel aber und um ihn herum ging Seltsames vor – eine Art gigantisches Auf- und Abwogen. Da kamen mit lautem Baßgebrumm gewaltige Fliegenschwärme aus dem Wald geschossen, strebten der Hügelkuppe zu und verschwanden im Nebel. Die Abhänge waren auf einmal von Ameisen- und Spinnenkolonnen bevölkert, aus dem Gesträuch ergossen sich Hunderte von Amöbenschnecken, unübersehbare Schwärme von Bienen und Wespen sowie Wolken vielfarbiger Käfer flogen zielstrebig durch den Regen. Ein Brausen erhob sich wie bei aufkommendem Sturm. Es war eine ganze Woge, die zur Hügelkuppe aufstieg, sich in den violetten Nebelschleier hineinfraß und darin verschwand. Dann griff plötzlich Stille um sich, der Hügel wurde wieder tot und kahl. Doch nach einer Weile wurde es erneut turbulent und laut, alles, was vorher eingetaucht war, quoll aus dem Nebel zurück und strebte dem Wald zu. Lediglich die Schnecken blieben auf der Kuppe, sonst aber stürzte das unwahrscheinliche Getier hügelabwärts: Fadenwürmer kollerten, plumpe Handfresser hinkten auf knikkenden Beinen hinab, neben noch anderen, nie gesehenen Wesen, die grellbunt, vieläugig, nackt und glänzend, halb Tier und halb Insekt waren. Dann setzte wieder Stille ein, und dann ging alles von vorn los, noch einmal und noch einmal, in erschreckendem, wildem Rhythmus, mit einer nicht nachlassenden Intensität, so daß es aussah, als wäre das schon seit jeher so gewesen und würde auch so bleiben, in dem gleichen wilden Rhythmus und mit

Weitere Kostenlose Bücher