Die Rekonstruktion des Menschen
genügend Verstand und Taktgefühl, um sich zudringlicher Fragen zu enthalten? Schließlich gab es einen Verstand des Kopfes und einen des Herzens. Unter den gegebenen Umständen zog Platonow letzteren vor.
Die »Fjodor Schaljapin« näherte sich langsam dem Kai, und Platonow erblickte die bunte Menge der Wartenden. Irgendwo in dieser Menge befand sich auch Michail Lewitski: Kurarzt, Janinas Sohn, ein kluger Bursche.
Ein lärmendes Grüppchen junger Leute mit Rucksäcken über den Schultern drängte sich durch die dichte Mauer der Passagiere zum Fallreep hindurch. Einer von ihnen, ein blondköpfiger, kraftstrotzender junger Mann, Platonows Kajütengenosse, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Na, sehen wir uns in Chalzedonowaja wieder?«
»Bestimmt«, erwiderte Platonow, setzte aber im stillen hinzu: Nein, mein Freund, wir sehen uns nie wieder.
Ihm schoß noch ein anderer Gedanke durch den Kopf: Wenn der Neffe mir nicht zusagen sollte, kann er mir gestohlen bleiben – hier befaßt sich wahrscheinlich die halbe Stadt mit der Vermietung von Zimmern.
Die Einsamkeit eines Hotelzimmers war nicht nach Platonows Geschmack.
Michail Lewitski hatte an diesem Tag alle Hände voll zu tun. Morgens fand die übliche kurze Ärzteberatung statt, die sich über fünfunddreißig Minuten hinzog, worauf die Morgenvisite in der von ihm geleiteten Station des geriatrischen Sanatoriums »Langlebigkeit« und die Sprechstunde für die Patienten folgten.
Michail war Facharzt für Geriatrie. Er kannte sich gut mit alten Leuten aus – mit ihren besonderen Krankheiten, den altersbedingten Veränderungen des Blutes, der Zusammensetzung ihres Hautfettes und mit ihren schwierigen Charakteren. Mehr als eine Stunde lang mühte er sich mit einer neuen Patientin ab: Michail war der Meinung, daß man sich vor allem um ihr Herz- und Kreislaufsystem kümmern müsse, während die Patientin darauf bestand, sich zuerst mit ihren Falten zu befassen.
Gegen zwei Uhr unterbrach er seine Arbeit und lief zur Anlegestelle, um den Onkel abzuholen.
Er wußte natürlich, daß er einen Onkel namens Georgi Platonow, einen Bruder seiner Mutter, besaß. Niemals, kein einziges Mal aber hatte Platonow ein Lebenszeichen von sich gegeben. Und nun plötzlich dieses Telegramm: »Eintreffe am Soundsovielten…«
Michail stand am Fallreep und musterte finster die an der Anlegestelle von Bord gehenden Passagiere der »Schaljapin«. Er wußte nicht, wie Platonow aussah, hatte aber allen Grund zu der Annahme, daß der legendäre Onkel mindestens siebzig sein müsse. Wäre dieser alte Kauz wenigstens daraufgekommen, ihm ein Foto von sich zu schicken… Aber das war wohl zuviel verlangt. Michail kannte diese alten Leute schließlich nur allzu genau: ihren Starrsinn und ihre Sparsamkeit.
Die Passagiere strömten in dichten Scharen über das Fallreep und bildeten schließlich eine dünne Kette von Nachzüglern, bis das Fallreep zu guter Letzt völlig leer blieb. Kein einziger alter oder auch nur einigermaßen betagter Mann war an Michail vorübergekommen.
Er legte den Kopf in den Nacken und rief einem Mann in weißer Uniformmütze, der sich pfeiferauchend über das Schanzkleid der »Schaljapin« lehnte, zu: »Sind alle von Bord? Oder schläft noch jemand in seiner Kajüte?«
»Wir haben alle geweckt«, entgegnete der Weißbemützte würdevoll.
Als Michail sich umwandte, um die Anlegestelle zu verlassen, erblickte er vor sich einen Mann. Der Fremde war hochgewachsen und an die vierzig Jahre alt, seine grauen Augen schauten Michail unter der Schirmmütze ruhig und ein wenig spöttisch an.
»Haben Sie auch umsonst gewartet?« fragte Michail.
»Offensichtlich nicht«, erwiderte der Unbekannte. »Sie heißen Michail Lewitski und sind hier, um Ihren Onkel abzuholen, nicht wahr?«
»Das stimmt«, sagte Michail erstaunt. »Allerdings haben wir uns verfehlt.«
»Wir haben uns nicht verfehlt.« Der Unbekannte schmunzelte. »Guten Tag, mein lieber Neffe. Mir ist gleich aufgefallen, wie sehr du deiner Mutter ähnelst.«
»Erlauben Sie mal! Sie sind Georgi Platonow? Soviel ich weiß, müßten Sie doch…«
»Du hast ganz recht, ich bin wirklich schon sehr alt, habe mich aber, wie du siehst, gut gehalten. Ist in deinem Haus ein Zimmer für mich frei?«
»Ein Zimmer?« Michail war durch das unerwartet jugendliche Aussehen seines Onkels so aus der Fassung geraten, daß er den Sinn dieser Frage nicht gleich verstand. Erst einen Augenblick später sagte er: »Ja, natürlich, das Zimmer steht
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