Die Rekonstruktion des Menschen
bereit.«
»Na, dann gehen wir.«
Platonow führte zwei ziemlich schwere Koffer mit sich, als Michail aber nach dem größeren greifen wollte, schob der Onkel seinen Arm sanft beiseite.
»Nimm lieber den anderen. Ich will dich ja nicht kränken, aber ich muß dir sagen, daß ich kräftiger bin als du.«
Als sie durch das einladend geöffnete Tor des Hafengebäudes mit dem darüber angebrachten Plakat »Herzlich willkommen in Kara-Burun« traten, versäumte Michail trotz seiner Verblüffung nicht, den Onkel auf die größte Sehenswürdigkeit der Stadt aufmerksam zu machen: »Wie gefällt Ihnen unser Hafengebäude?«
»Glas, Kühle, Grünpflanzen!« erwiderte der Onkel anerkennend.
Als sie den Hafenvorplatz betraten, blieb Platonow unwillkürlich stehen.
Palmen und Pandanen bildeten eine grüne Mauer. Linker Hand erstreckte sich die von schmucken, in verschiedenen Farben gestrichenen Häusern umsäumte Uferpromenade, die von mächtigen Platanen überdacht wurde, und den Asphalt sprenkelten tiefblaue, mit Sonnenflecken vermischte Schatten. Der Rundung der Bucht folgend, beschrieb die Promenade einen sanften Bogen.
Gleich hinter dem Boulevard und der Uferpromenade stieg die Stadt bergan. Neugierig betrachtete Platonow die buckligen Brücken und die steinernen Treppen, die spielzeugartigen Gondeln der Drahtseilbahnen und den an den Hängen einer Schlucht angelegten Bambushain. Die grünen, gelben und blauen Farbtöne leuchteten klar und hell.
Ja, er hatte gut daran getan hierherzukommen. Diese merkwürdige Stadt war für sein Vorhaben wie geschaffen.
»Kommen Sie, Onkel Georgi«, sagte Michail, der die Worte »Onkel Georgi« nur zögernd über die Lippen brachte.
Er führte seinen frisch erworbenen Verwandten nach rechts – zu einem alten Torbogen und dem dahinter steil ansteigenden, mit Platten belegten Weg. »Dreimeilendurchgang«, las Platonow auf dem Schild. In den Ritzen zwischen den Platten wucherte das unverwüstliche Gras. Michail übernahm die Rolle eines Fremdenführers und erzählte, wie schwierig es gewesen sei, in dem zwischen Felsen und dem Meer eingekeilten KaraBurun zu bauen, und welch unvorstellbare Mühen das Anlegen einer Wasserleitung und des Kanalisationssystems gekostet habe.
Sie stiegen immer höher hinauf. Zu ihrer Rechten schimmerte das sonnenüberflutete blaue Meer durch die Haselbüsche, während linker Hand gelbe Häuschen im Grün der Gärten versanken. Michail geriet ins Schwitzen, der Aufstieg, der Koffer und das viele Reden benahmen ihm den Atem. Er musterte Platonow mit verstohlenen Seitenblicken: Der Onkel schritt gleichmäßig aus, und der schwere Koffer machte ihm offensichtlich nicht allzusehr zu schaffen. Über siebzig sollte er sein? Na, wenn das stimmte, hatte er, Michail Lewitski, der Facharzt für Altersheilkunde, einen solchen alten Mann noch nie gesehen.
Eine Prozession bewegte sich auf sie zu. Zum Klang von Geigen und Waldhörnern, zum Gemurmel einer Trommel zogen mit Kränzen aus weißen und roten Blüten geschmückte, braungebrannte Jungen und Mädchen an ihnen vorbei.
»Was bedeutet das?« fragte Platonow und trat an den Wegrand. »Eine Prozession zu Ehren meiner Ankunft?«
»Nein«, erwiderte Michail ernst. »So ehrt man den Absolventenjahrgang des Balneologischen Technikums. Heute findet ein großes Fest statt – mit Wettkämpfen im Schwimmen und Bogenschießen, na, und so weiter. Jetzt geht’s hier entlang.«
Sie erklommen die steilen, in die Felsen geschlagenen Stufen und erreichten die »Straße der Meeresschätze«.
»Das ist unser Haus«, sagte Michail und wies auf ein kleines, mit mehrfarbigen Ziegeln gedecktes Einfamilienhaus, an das sich eine weinumrankte Veranda schmiegte.
Bevor sie durch das Gartentor traten, schaute Platonow noch einmal zurück. In wunderbarem, tiefem Blau lag unter ihnen das riesige, am Horizont mit dem Himmelsblau verschmelzende Meer.
Und wieder sagte er sich, daß es eine gute Idee gewesen sei hierherzukommen.
Auch sein Zimmer gefiel ihm. Vor dem offenen Fenster hingen Süßkirschenzweige, und aus dem Garten strömte ein feiner Blütenduft herein.
»Danke, Michail«, sagte Platonow und stellte seinen Koffer in eine Ecke. »Der Tisch aber ist zu schön und empfindlich für mich – habt ihr keinen anderen, einfacheren? Ich werde mich ein wenig mit Chemikalien befassen müssen, weißt du.«
»Gut, ich stelle Ihnen einen anderen herein.« Michail schwieg, darauf wartend, daß Platonow sich näher über seine Versuche äußern werde. Da der
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