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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Schuhe einlaufen. Ihre steinigen Wege sind dafür gut geeignet.«
»ich dachte schon, Sie arbeiten in der Schuhindustrie.« »Ein wenig hatte ich auch damit einmal zu tun. Kann ich
noch etwas Kompott haben?«
»Bitte.« Assja goß ihm aus dem Krug Kompott nach. »Und
wo arbeiten Sie jetzt?«
»Mein Fachgebiet ist die Biochemie. Ich muß noch einige
Forschungen abschließen und habe dann die Absicht fortzugehen… in Rente.«
»Fürs Rentenalter sehen Sie aber noch glänzend aus.« »Ja, das finden viele«, sagte Platonow ruhig.
Er trank schweigend sein Kompott aus, bedankte sich bei der
Hausfrau und ging unter Berufung auf seine Müdigkeit in sein
Zimmer. Assja sandte ihm einen langen Blick nach. »Igor«, sagte sie, »bring das Geschirr in die Küche. Nein,
warte mal. Warum hat Onkel Georgi dich in die Stadt geschickt?«
»Er hat mir eine Liste verschiedener Bauteile mitgegeben,
und ich bin damit zum Radiogeschäft an der Uferpromenade
gegangen. Onkel Georgi will mir das Löten beibringen.« »Das ist gut«, meinte Michail. »Vielleicht gelingt es ihm,
dein Interesse für die Technik zu wecken. Du kennst ja nichts
anderes als deine Bücher und das Angeln mit Philipp. Na, geh
schon. Aber vorsichtig, zerbrich das Geschirr nicht.« Als der
Junge das Tablett mit den Tellern und Gläsern aufgehoben
hatte und in die Küche gelaufen war, sagte Michail leise zu
seiner Frau: »Assja, ich möchte dich um eins bitten… Ich
glaube, wir dürfen ihm keine Fragen stellen.«
»Warum denn das?« Assja fuhr so heftig auf, daß der Korbstuhl unter ihrem fülligen Körper knarrte. »Was ist das für ein
seltsamer Vogel? Du hast gesagt, er ist über siebzig, dabei seht
ihr gleichaltrig aus.«
»Also, Assja, das ist noch kein Grund, ihn schlecht zu behandeln.«
»Vielleicht hast du recht. Aber ich kann es nun mal nicht ausstehen, wenn jemand sich mit Geheimnissen umgibt.« »Das tut er doch gar nicht. Du hast ja gehört, daß er irgendwelche Forschungen abschließen muß.«
»Ich will dir mal was sagen, Michail: Soll er seine Experimente woanders machen. Wie leicht kann es zu einer Explosion kommen, und zu guter Letzt setzt er noch das Haus in
Brand… Ich werde in der Kurverwaltung darum bitten, daß
man ihm eine Einweisung in ein Ferienheim gibt.«
»Nein«, widersprach Michail so entschieden, daß sie ihn erstaunt ansah. »Nein, Assja, er wird bei uns bleiben, solange er will. Er ist schließlich der Bruder meiner verstorbenen Mutter,
und außer uns hat er keine Verwandten mehr.«
»Wie du meinst.« Assja erhob sich und strich mit einer kleinen Bürste die Krümel von der Tischdecke auf ein Tablett.
»Wie du meinst, Mischa. Aber mir gefällt das nicht.« Eine Rakete schoß zischend in den dunklen Himmel auf und
schüttete eine Garbe grüner und weißer Lichtpunkte direkt in
den Wagenkasten des Großen Himmelswagens. Immer neue
und neue Raketen folgten ihr. Am Himmel kreisten rote Spiralen, und ein bunter Sternenregen ging nieder.
Michail erinnerte sich plötzlich, daß er an diesem Tag noch
nicht die Obstbäume gegossen hatte. Er stieg in den Garten
hinunter und ging zum Anbau, um den Gartenschlauch zu
holen. Hinter der Hausecke hielt er im Schatten einer Süßkirsche inne.
Platonow stand im dunklen Zimmer am offenen Fenster. Die
aufflammenden Raketen beleuchteten sein dem Himmel zugewandtes Gesicht. Es wirkte wie versteinert, die scharfen, von
den Nasenflügeln zu den harten Mundwinkeln herabführenden
Falten und die Einkerbung in dem markanten Kinn traten
deutlich hervor. Das Gesicht war ruhig, und doch glaubte
Michail in ihm eine unendliche Müdigkeit wahrzunehmen –
einem solchen Ausdruck begegnet man nur bei Menschen, die
vom Leben bereits nichts mehr erwarten.
Als Michail einen Schritt zurücktrat, knirschten die kleinen
Muscheln unter seinen Füßen, und Platonow erblickte ihn. Er lächelte ihm zu.
»In Kara-Burun wird ja tüchtig gefeiert«, sagte er. »Ja«, erwiderte Michail. »So ehrt man bei uns jeden Absolventenjahrgang des Balneologischen Technikums.« Platonow lebte bereits seit zwei Wochen im Haus seines Neffen Michail Lewitski. Im Morgengrauen stand er auf und weckte Igor, der im Garten auf einem Klappbett schlief. Die beiden tranken ein Glas kalte Milch und brachen in die Berge auf.
Michail und Assja schliefen zu dieser Zeit noch.
Während der morgendlichen Wanderung trug Platonow neue
braune Schuhe mit gelber Sohle, und auch dem Jungen gab er
ein Paar der gleichen, allerdings bereits reichlich abgetragenen
Schuhe.

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