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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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machen. Nach
langer innerer Debatte begaben wir uns auf ein Wüstenplateau,
füllten mit dem Saft der Tollkrautbeeren die unter einem Strauch
gefundene mikrosemenidische Zisterne und setzten sie an die Lippen,
taub für das Geschrei des inneren Verführers, daß wir
angeblich aus fruchtloser Begierde und nicht aus reiner
Staatsräson einen Staatenmord begangen! Die Schierlingszisterne
zitterte zwar in unserer Hand, wir schwören je doch, daß wir
sie bis auf den Grund ausgetrunken hätten, wenn nicht ein Eissturm
von oben plötzlich herabgestürzt und unser Staat in einen
Gefrierschlaf gesunken wäre, um erst hier, in eurer wohlwollenden
Runde, die Augen wieder zu öffnen…

Jewgeni Woiskunski / Issai Lukodjanow
Abschied am Ufer
    Mitunter begegnet man Wesen, die es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht haben, ihre Umwelt auf das leise Raunen und das geheimnisvolle Wispern des Unerforschten aufmerksam zu machen.
Alexander Grin
     
Das weiße Diesel-Elektroschiff näherte sich langsam der felsigen Küste.
    An Deck drängten sich heiter gestimmte, gutgekleidete Passagiere. Sie unterhielten sich lachend, voller Vorfreude auf das Baden und die sie erwartende Muße, und ergötzten sich am Anblick der immer wieder aus dem blaugrünen Wasser springenden. Delphine.
    Äußerlich unterschied sich Platonow in nichts von den Urlaubern. Als er sich dessen bewußt wurde, mußte er über seine eigenen traurigen Gedanken lächeln.
    Die Ufer traten auseinander. Als die »Fjodor Schaljapin« die Spitze des Kaps umschiffte und in die breite Bucht einbog, tat sich der Anblick einer Stadt auf.
    Neugierig betrachtete Platonow die malerisch über die Felsen verteilten gelblichen Häuser und das üppige tropische Grün. Der weiße Kegel des Leuchtturms am Ende des Piers zeichnete sich deutlich gegen den blauen Himmel ab. Über den Schiffsanlegeplätzen, über dem gläsernen Würfel des Seehafengebäudes und den Ziegeldächern der Häuser flirrte der Dunst eines glutheißen Tages.
    Sei gegrüßt, altes Kara-Burun, sagte Platonow im stillen zu der näher rückenden Stadt. Laut ausgesprochen, hätte diese Begrüßung vielleicht ein wenig zu familiär geklungen, denn Platonow war nie zuvor in dieser Stadt gewesen. Das Gute an den Gedanken ist ja, daß niemand sie hört.
    Kara-Burun war an der Stelle einer altgriechischen Siedlung entstanden. Es hatte Zeiten der Blüte erlebt und sich zusammen mit dem Seehandel stürmisch entwickelt, aber auch einen Niedergang erfahren, als der Handel abflaute und die Schiffsladungen in glücklichere Hafenstädte überwechselten. Als stumme Zeugen aus alter Zeit erhoben sich über der Stadt, auf den felsigen Hügeln, halb zerfallene Wachtürme – aus ihren dem Meer zugewandten Schießscharten ragten jetzt allerdings keine Musketen mehr, sondern die Zweige wilder Haselbüsche.
    Kara-Burun war vom Festland aus gar nicht und vom Meer nur schwer zugänglich – ein Umstand, der bei der heroischen Verteidigung der Stadt gegen faschistische Landungstruppen im Großen Vaterländischen Krieg keine geringe Rolle gespielt hatte.
    Seit langem aber ließen auf der Reede von Kara-Burun keine Kriegsschiffe mehr Rauchfahnen aufsteigen. Jetzt liefen den Seehafen während der Kursaison, die übrigens gute zehn Monate im Jahr währte, nur noch Passagierschiffe an. Wogen von Erholungsuchenden überschwemmten die Stadt, klickten emsig mit Fotoapparaten, surrten mit Filmkameras und füllten die Elektrozüge, die sie zur Chalzedonowaja-Bucht mit ihren herrlichen Stränden, den mehrstöckigen Ferienheimen, ihren Sonnen- und Luftbädern aus Glasbeton und den Dutzenden von Cafes und Imbißautomaten brachten.
    In Kara-Burun wohnten Angestellte der Kreisämter, Ärzte, Mitarbeiter der Kurverwaltung und das Personal der Souvenierfabrik. Einen erheblichen Teil der städtischen Einwohner bildeten pensionierte Angehörige der Seestreitkräfte, die ihre Muße der Züchtung von Erdbeeren und dem Angelsport widmeten.
    Außerdem lebte hier Michail Lewitski, Platonows Neffe. Diesen Neffen hatte Platonow zum letztenmal vor dreißig Jahren gesehen. Damals war Michail noch ein kleiner Knirps gewesen. Platonows verstorbene Schwester hatte ihm seinerzeit erzählt, daß sein Neffe Arzt geworden sei und sich in KaraBurun niedergelassen habe. Ansonsten wußte Platonow nichts von seinem einzigen Verwandten. Was war er für ein Mensch? Janina, Platonows verstorbene Schwester, hatte ihm einst gesagt, daß Michail ein kluger Bursche sei. Aber besaß er

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