Die Rekonstruktion des Menschen
Igor waren sie ein wenig zu groß, und er mußte drei
Paar Socken anziehen, damit seine Füße in den Schuhen nicht
hin und her rutschten. Er ertrug jedoch geduldig die Unbequemlichkeit dieser schweren Montur.
Nach etwa drei Stunden kehrten sie zurück, reinigten ihre
Schuhe sorgfältig vom Straßenstaub und wogen sie ebenso
sorgfältig auf einer empfindlichen Waage. Danach stellte Platonow seine Schuhe in einen besonderen, mit einer in Lösung
getränkten Filzschicht ausgelegten Kasten, von dem Drähte zu
dem am Ankunftstag gebauten Gerät hinüberführten. Igors
Schuhe dagegen kamen nach dem Wiegen in einen gewöhnlichen Karton.
Anschließend verzehrten die beiden Freunde – und sie waren
tatsächlich, soweit ihr Altersunterschied das überhaupt erlaubte, Freunde geworden – das von Assja bereitgestellte Frühstück
und arbeiteten eine Zeitlang. Platonow beschäftigte sich mit
seinen Aufzeichnungen, während Igor vom Onkel gestellte
Aufgaben löste, Spulen aufwickelte oder in einem Buch las.
Manchmal, wenn Igor, der über einer schweren Aufgabe brütete und auf seinem Bleistift kaute, einen Blick auf den Onkel
warf, bemerkte er, daß dieser nicht schrieb, sondern, das Gesicht in den Händen verborgen, reglos dasaß; niemals aber
wagte der Junge, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Am fünften Tag erhielt Platonow zwei postlagernde Pakete
aus Leningrad. Gemeinsam mit Igor schleppte er sie mühsam
die Stufen hinauf: Zur »Straße der Meeresschätze« fuhren
keine Taxen.
Zwei Tage später traf ein weiteres schweres Paket ein. Nun
warf Platonow seine Schuhe in eine Ecke und trug sie von nun
an nicht mehr während der morgendlichen Streifzüge, und auch
Igor kehrte zu seinen bequemen Sandalen zurück. In Platonows
Zimmer wimmelte es jetzt von Geräten und kreuz und quer
verlaufenden Drähten, und überall huschten wie rastlose Ameisen Zeiger über Zifferblätter. Platonow widmete seiner Arbeit
immer mehr Zeit. Manchmal unterbrach er seine Notizen und
sagte zu Igor: »Geh in den Garten, mein Freund, und entspanne
dich ein wenig. Ich möchte jetzt allein sein.«
Igor zog sich mit einem Buch in seine Hängematte zurück
und wartete geduldig. Gewöhnlich kam der Onkel gegen drei
Uhr auf die Veranda heraus, blinzelte in die Sonne und machte
ein paar Kniebeugen – das war das Zeichen dafür, daß der
Arbeitstag beendet war und sie ans Meer gehen konnten. Einmal schien sich der Onkel gar nicht von seiner Arbeit trennen
zu können: Es ging bereits auf fünf zu, doch ließ er sich noch
immer nicht auf der Veranda blicken. Igor schlich sich leise zu
seiner Tür und horchte. Aus dem Zimmer drang kein Laut. Der
Junge erschrak und riß die Tür auf…
Platonow lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden.
Igor schrie auf, lief zu ihm, rüttelte ihn und drehte ihn auf den
Rücken. Endlich schlug Platonow seine nach der langen Ohnmacht noch immer trüben Augen auf.
»Nimm mir die Manschetten ab«, sagte er mühsam, mit brü
chiger Stimme.
Igor riß ihm die straff anliegenden, an Drähten befestigten
Gummimanschetten von den Handgelenken und Knöcheln. Der
Onkel erhob sich langsam und ließ sich in einen Sessel sinken. »Was stellen Sie mit sich an?« fragte Igor besorgt. »Nichts weiter… Drück den Hebel herunter.« Er verstummte.
Sein Atem ging wieder gleichmäßig. »Das wäre alles. Du
kannst schon die Angeln holen, wir gehen ans Meer.« Nicht weit von dem Torbogen am Dreimeilendurchgang lag
inmitten aufgetürmter Küstenfelsen ein kleines, glattes, dreiekkiges Stück Strand, das mit Geröll übersäht war. Dies war seit
langer Zeit Igors Lieblingsplatz, an dem er gern badete und
angelte. Hierher führte er auch Onkel Georgi. Die beiden badeten, saßen im Schatten der Felsen, blickten aufs Meer hinaus,
und Igor legte seine Angeln aus.
»Warum wollen Sie nicht braun werden?« fragte Igor einmal
mit einem Blick auf Onkel Georgis weiße Haut.
»Das ist für mich nicht angebracht«, erwiderte Platonow. »Dafür wirst du für zwei braun.«
Igor schaute auf seinen gebräunten Bauch.
»Bei mir hält sich die Bräune das ganze Jahr über. Philipp
sagt, daß einem keine Krankheit etwas anhaben kann, wenn
man sich richtig von der Sonne durchdringen läßt. Sie dürfen
wohl wegen Ihrer alten Wunden nicht in die Sonne gehen?« »Deshalb auch. Vor allem aber, weil ich selbst alt bin.« »Sie sind doch nicht alt, Sie schwimmen besser als ich, besonders im Schmetterlingsstil. Onkel Georgi, Sie müssen für
immer bei uns bleiben,
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