Die Rekonstruktion des Menschen
lückenlose Bildung er besaß, vor allem in den Naturwissenschaften. Aber er unterhielt sich nicht mit vielen Leuten. Ich war eine Ausnahme. Oft bedauerte ich ihn ein bißchen. Ich lud ihn zu mir ein. Vielleicht würde er bei uns seine ausweglose und leere Existenz vergessen – oder seine Schicksalstragödie, die ihn einst, wie ich vermutete, getroffen hatte. Doch ich hatte mich geirrt.
Die Enttäuschung
Es war mehr eine Enttäuschung als eine Tragödie. Ich erfuhr eines Abends alles, als ich ihn in meinem Labor bei zerschlagenen Reagenzgläsern fand, der Bunsenbrenner aufgedreht, die Reagenzien über den Tisch verschüttet.
»Was ist passiert?« Ich lief schnell zum Fenster. Er blickte
mich müde an.
»Nichts, nichts…« Er wollte weggehen. Seine Knie knickten
ein, ich merkte gleich, daß er betrunken war. Freilich, mein
Vorrat an reinem Alkohol hatte sich merklich verringert. »Sie haben meinen Alkohol gestohlen…«
Er entschuldigte sich, redete sich mit einem Versuch heraus.
Das regte mich auf.
»Wissen Sie, was ich aufs Spiel setze? Ich erlaube Ihnen irgendwelche Versuche, deren Sinn ich nicht kenne, ich bin
befreundet mit einem Menschen, frage überhaupt nicht nach
seiner Vergangenheit, und er bestiehlt mich zu guter Letzt. Wer
weiß, wozu Sie fähig sind.« Ich wollte ihn hinauswerfen. Er
erschrak. Das erstemal in dieser ganzen Zeit blickte er mich an.
Es waren gebieterische, verzweifelt entschlossene Augen. »Ich sage Ihnen alles, gut, Sie müssen mich verstehen, ich
könnte nicht leben ohne Labor. Oder Sie würden nicht leben.«
Auf einmal schien er völlig ernüchtert zu sein. Wollte er noch
dazu drohen? Aber bald verzieh ich ihm. Seine Arbeit war
wirklich eigenartig und wichtig. Ich selbst nippte schließlich an
meinem Vorrat an reinem Alkohol, ich dachte überhaupt nicht
daran, nach Hause zu gehen, so nahm mich seine Erzählung
gefangen.
Stein hieß ursprünglich nicht Stein, seine Mutter war die berühmte Sängerin D-ová, über die so viel billige Romane geschrieben worden waren. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hatte
sie Riesenerfolg in aller Welt. Geheiratet hatte sie nie, sie
suchte sich hin und wieder Liebhaber, die Kinder, die solchen
Beziehungen entsprangen, gab sie zu Verwandten oder zu
bereitwilligen Ehepaaren zur Erziehung. Sie zahlte königlich.
Das konnte sie sich erlauben, man wollte sie überall in der
Welt. Sie setzte Tokio in Erstaunen, sang in der Metropolitan,
in Wien, in Berlin. Nur in Prag selten. Erstens war sie zu Beginn ihrer Karriere hier nicht anerkannt worden, und zweitens
hatte sie bei einer deutschen Lehrerin singen gelernt. Sie kehrte
gern nach Böhmen zurück, hier war sie ja zu Hause, und hier
konnte sie sich in der Mode der Welt zeigen, ihre armen Mitschüler mit Equipagen und Dienern und Liebesaffären verblüffen, an denen das damalige gesellschaftliche Leben des kaum
erwachten Prag recht arm war. Sie soll sogar ein Schlößchen
irgendwo in Südböhmen gehabt haben, das sie von einem
verarmten adligen Liebhabet gekauft hatte. Hierher kam sie
dann mit einem Neger, und hier sah sie auch Stein, der vierzehn Jahre alt war und den Namen der Eltern trug, die ihn
aufgezogen hatten.
Sie begrüßte ihren Sohn feierlich, er bekam das erstemal
Champagner zu trinken, sie verlor kein Wort über seine Häß
lichkeit, sagte ihm nur, er ähnle seinem Großvater, dessen
Fotografie sie ihm gab. Sein Großvater war ein spanischer
Geschäftsmann, sein Vater ein spanischer Sänger, schon längst
tot. Das Bild seines Großvaters habe Stein bis heute, den Anblick seiner Mutter vergaß er nie, denn so eine schöne Frau
habe er wohl seitdem auf der ganzen Welt niemals gesehn. Er
war nie verbittert ihr gegenüber, er benahm sich den ganzen
Nachmittag artig, als sich eine noble Gesellschaft im Schloß
versammelte, um ein Kammerkonzert zu hören, und er weinte
nach den Arien seiner Mutter. Damals bekam er einen Kuß von
ihr, den einzigen Kuß, an den er sich erinnerte, denn an irgendwelche Liebkosungen nach der Geburt erinnert man sich
nicht, und gestillt wurde er woanders. Er bekam einen Kuß und
ein Gastgeschenk in die Hand, sie scheuchte ihn vor dem
Abendessen weg, bei dem die berühmten Orgien stattfinden
sollten, von denen in allen umliegenden Dörfern erzählt wurde.
D-ová fuhr bald darauf wieder auf Tournee, in Frankreich soll
sie sogar mit ihrem schwarzen Liebhaber ein Kind gehabt
haben. Dieser Liebhaber war ein gewöhnlicher ausgedienter senegalischer Schütze, und als sie ihn verlassen
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