Die Rekonstruktion des Menschen
hörst du? Man muß gegen das Altern ankämpfen, aber so, daß der natürliche Kreislauf nicht gestört wird. Hörst du mir zu? – Die stufenweise Abnutzung ist eine gute Idee, aber der Mensch darf die Stunde seines Todes nicht kennen. Das nimmt ihm die Freude am Leben. Hörst du? Fahre zu Sybin nach Leningrad und übergib ihm die Aufzeichnungen über mein letztes Experiment. Dort wird ein Weg aufgezeigt… Galina, komm zu dir! Hör zu! Ich habe eine Möglichkeit entdeckt, die Begrenztheit des Stoffwechsels zu überwinden. Sybin und du, ihr beide seid verpflichtet, die Sache zu Ende zu bringen.«
Er erhob sich, nahm seine Armbanduhr ab, warf noch einmal einen Blick auf sie und schlug sie kräftig gegen einen Stein. Dann schleuderte er sie ins Meer hinaus.
»Ich gehe jetzt, Galina… Das Leben ist aus dem Ozean entsprungen, und wir tragen den Ozean in uns, in unserem salzigen Blut. Ich möchte, daß es im Meer geschieht…«
»Ich lasse dich nicht weg!« rief Galina und schlang ihre Arme um ihn. »Ich lasse dich nicht gehen! Ich lasse dich nicht!« wiederholte sie wie von Sinnen.
Er streichelte ihren Kopf und ihre Schultern. Sein Gesicht war nach oben, zum Sternenhimmel, gewandt, doch er sah die Sterne nicht: Er hielt die Augen fest geschlossen.
Dann schob er ihre Hände entschieden zurück. Rasch legte er seine Kleidung ab und stieg in das warme, dunkle Wasser. Man hörte die kleinen Steine knirschen.
Galina stürzte ihm schluchzend nach.
»Sei klug, Galina. Ich habe nicht mehr viel Zeit und möchte den Ausgang der Bucht erreichen.«
Vom Ufer aus sah sie noch eine Zeitlang seinen Kopf und die Arme, die in regelmäßigen Abständen auftauchten und versanken. Dann verschlang ihn die Finsternis, noch lange aber hörte die Frau im nächtlichen Dunkel das leise Plätschern des Wassers unter seinen Armen.
Josef Nesvadba
Die chemische Formel des Schicksals
Stein war Pfleger im Kreißsaal einer Bäderstadt in Nordböhmen. Ich lernte ihn kurz nach dem zweiten Weltkrieg kennen, als ich in die dortige Krankenhausapotheke versetzt wurde. Es zeigte sich nämlich, daß er nicht nur von Krankenpflege etwas verstand, sondern auch von der Zubereitung von Arzneien. Er half mir bei der Arbeit. Ich brauchte ihn, denn der ausgesiedelte Apotheker hatte das Chemikalienlager nahezu verwüstet. Stein kümmerte sich hauptsächlich um das Laboratorium, er besuchte mich, wenn sein Dienst zu Ende war, und blieb bis tief in die Nacht. Eine bemerkenswerte Opferbereitschaft. Ich war ihm dankbar. Wir freundeten uns fast an. Und ich begann mich für sein Schicksal zu interessieren.
Früher war er Sänger in einem Opernchor gewesen. Erst als sie ihn hinauswarfen, nahm er die Stelle im Krankenhaus an. Es war eine schlechtbezahlte Stelle, und niemand bemühte sich darum. Als Pfleger hatte er die Gebärenden auf einer Trage oder auf den Armen vom Krankenwagen zum Aufzug zu bringen, vom Aufzug in den Kreißsaal, sie bei Operationen hochzuheben, Sauerstoffbomben und Medikamente zu besorgen, sich um die Wäsche der ganzen Abteilung zu kümmern. Nichts Interessantes, nichts, wonach ein begabter Mensch streben würde. Und doch wußte Stein seine Stelle zu schätzen. Er hatte es nie eilig, vom Krankenhaus nach Hause zu kommen, stundenlang war er bei mir in der Apotheke. Nach Hause zog es ihn auch deshalb nicht, weil er dort allein lebte und sich um ein geselliges Leben nicht allzusehr bemühte, denn er war häßlich. Ich habe selten so einen häßlichen Menschen gesehen. Es war nicht diese auffällige Unansehnlichkeit, wie wir sie beispielsweise bei Boxern beobachten und die so oft Frauen interessiert, die Unansehnlichkeit eines Rohlings oder eines genußsüchtigen Menschen. Es war eine mittelmäßige Häßlichkeit, die niemand beachtet, ein Dutzendmensch, kein Quasimodo. Auf einem dicken Hals mit einem Kropf saß ein aufgedunsener Kopf mit spärlichen Haaren, das Gesicht, weiß wie Papier, war von unzähligen Sommersprossen übersät, ein fleischiger Mund und eine Sattelnase mit einer niedrigen Stirn, unter der blaugrüne Augen saßen. Nicht einmal die waren etwas Besonderes. Wenn er mit jemandem sprach, beobachtete er immer dessen linkes Ohrläppchen, als würde er sich fürchten, geradeaus zu blicken, als würde er sich auch für seine Augen schämen. Da er einen chronischen, hartnäckigen Schnupfen hatte, mußte er oft durch den Mund atmen, und dann sah er wie ein Vollidiot aus. Solange er nicht sprach. Erst dann merkte man, was für eine
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