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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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wollte wie so viele andere zuvor, verstand er die europäischen Sitten nicht und durchbohrte ihr eines Tages nach der Probe mit dem Dolch
das Herz.
Die tschechischen Zeitungen brachten die Nachricht von ihrem Tod unter dem Strich, in Petit, wie die Nachrichten aus
aller Welt, so wenig war sie bei uns verstanden worden. Die
österreichische »Bohemie« kam mit einer großen Todesanzeige
in einem schwarzen Rahmen heraus. Viele Männer schrieben
damals dort über ihre Kunst. Und unter den Besuchern der
deutschen Oper in Prag war es sogar Mode, die ganze Woche
in Schwarz zu gehen, es entstand ein Kult der großen Toten,
und sooft eine neue Adeptin ihrer Partien kam, schüttelten die
Dirigenten und die Chormeister die Köpfe. Ach wo, eine D-ová
wird das nicht…
Währenddessen lernte Stein schon bei einem Freund seiner
Mutter singen, der auch seinen spanischen Vater gekannt hatte.
Er hatte ihn also mehr aus diesen Gründen in die Lehre genommen. Verderben konnte er nichts, denn nur Praktiker gaben
Gesangsunterricht, und die Theorie des Gesangs befand sich
noch auf dem Gebiet von Aberglaube und Besprechen. Statt
dem Schüler die Prinzipien des Vortrages zu erläutern, erzählte
ihm der alte Maestro von seinen Erfolgen bei Frauen und besang das Talent seiner Mutter. Statt sich um die Grundübungen
zu bemühen, wollte er gleich Premierenerfolge erzielen. Aber
Stein hatte kein Talent, er hatte keine Fähigkeiten. Bei der
Premiere, wo er einen kleinen Part erhalten hatte, wurde er fast
ausgepfiffen. Vielleicht auch deshalb, weil man ihm ins Gesicht sehen konnte. Der alte Lehrer warf ihn hinaus. Er vermutete, Stein habe ihm diesen Mißerfolg absichtlich angetan, weil
er entgegen seiner Anordnung keine rohen Eier getrunken,
nicht mit Ziegenmilch gegurgelt und keine Atemübungen unter
drei Federbetten ausgeführt hatte.
Die Theaterdirektion teilte ihm mit, daß er nicht engagiert
wurde. Wieviel Jahre hatte er sich um seine Karriere bemüht,
wieviel Jahre hatte er seiner Mutter folgen wollen, und nun
stellte er schließlich fest, daß er mit dem Gesicht des Großvaters auch dessen Begabung geerbt hatte, nämlich das Talent für
Zahlen und Genauigkeit, Pedanterie, die in der Kunst am wenigsten vonnöten ist. Er begann Naturwissenschaften zu studieren, mit denen er sich in der Schule beschäftigt hatte, bevor
seine Mutter gekommen war, er interessierte sich wieder für
Biologie, Physiologie, die Beschreibung des Menschen. Am
meisten beschäftigte er sich jedoch mit Genetik. Er hatte auch
seine eigenen Gründe, er wollte wissen, warum gerade er, der
Sohn einer berühmten und schönen Frau, wegen irgendwelcher
unergründlicher Naturgesetze häßlich, ohne künstlerisches
Talent und ohne Begabung geboren worden war. Er empfand
das als Unrecht, er lehnte sich dagegen auf. Und deshalb begann er die Lehre von der Vererbung zu studieren.
Er bekam irgendwo eine Stelle im Operettenchor, mehr aus
Gnade und damit der Direktor auf den Plakaten schreiben
konnte: Es tritt auf Herr Stein, der Sohn der berühmten Sängerin D-ová. Damals geriet ihre empörende Lebensweise langsam
in Vergessenheit, und die Leute empfanden patriotischen Stolz,
als sie sahen, wie hoch unsere Landsmännin auch im Ausland
geschätzt wurde. Und so studierte Stein erst spät, in einer Zeit,
da die Männer seines Alters Stellen in der Universität innehaben, er studierte hinter Kleinstadtbühnen, studierte zwischen
Auftritten in Aida oder Rigoletto, Rastelbinder oder der Verkauften Braut, studierte in Dorfkneipen, ja auch in Ställen, wo
das Ensemble manchmal übernachten mußte. Er sei schon über
fünfzig, und erst vor drei Jahren habe er es gewagt, wenigstens
die Prüfung als Pfleger abzulegen. In der Genetik habe er
allerdings viel gründlichere Kenntnisse, zu Hause habe er eine
umfangreiche Bibliothek. Er erklärte mir die Gesetzmäßigkeit der erblichen Merkmale, sprach über Chromosomen, die im Zellkern die Eigenschaften der Geschöpfe bestimmen, und wie es möglich sei, auf sie einzuwirken, daß die Erblichkeit also
über dieses Chromosomensystem zu beeinflussen sei… »Aber glauben Sie, das sei so einfach? Die Vererbung zu beeinflussen? Überall auf der Welt wird etwas Ähnliches geplant.
Ich hab’ freilich geglaubt, ich sei draufgekommen. Und ich
hab’ meinen Stoff schon einer Schwangeren gegeben…«,
flüsterte er kleinlaut.
»Was?« Ich sprang auf. Erst jetzt begriff ich, warum er in der
Entbindungsklinik beschäftigt war, warum ihm so an

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