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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Mühe. Diesen Menschen brachte nichts von seiner Überzeugung, von seinem Vorhaben ab. Ihm die Arbeit in meinem Labor zu verbieten, wagte ich nicht, ich fürchtete ihn ein wenig. Schließlich war ich in gewissem Maße schon mitschuldig, und ich glaubte, er wäre zu allem fähig. Eher wollte ich erfahren, wie er überhaupt arbeitete, wie er in die Entwicklung des Embryos eingreifen wollte und in welchem Monat. Ich konnte mir irgendwelche Strahlen vorstellen, die das Gewebe gestört und verändert hätten, aber ich begriff nicht, wie er ihre Struktur durch die Einnahme von Tabletten verändern wollte. Bei dieser Überlegung fand ich auf meinem Tisch ein langes schwarzes Haar. Wie kam das hierher? Die Putzfrau war doch grauhaarig. Natürlich, Stein hatte mir erzählt, die D-ová habe ihm bei dieser einzigen Begegnung außer ihrem Foto auch ein silbernes Amulett gegeben, ein Döschen, in das sie eine Strähne ihrer eigenen Zöpfe gelegt hatte. Diese Haare waren der einzige Teil des Organismus der D-ová, den Stein jetzt hatte. Und die ließ er mir hier den Tag über auf dem Labortisch liegen. Umsonst hatte ich die Putzfrau gescholten.
Erst vor kurzem hatte ich von einem Versuch gehört, der Steins Bemühungen zu entsprechen schien. Die Genetiker waren auf die Desoxyribonukleinsäure gekommen. Es hatte sich gezeigt, daß man eine gezielte Veränderung der Erblichkeit erreichen kann, wenn man die Desoxyribonukleinsäure eines Stammes Mikroorganismen in die Kultur eines anderen Stammes überträgt. Wahrscheinlich so, wie Stein sich das vorstellte. Bisher werden diese Arbeiten freilich nur in bezug auf Mikroorganismen beschrieben. Und auch das erst heute, fast vierzehn Jahre nach meinem Aufenthalt im Grenzgebiet.
Stein muß damals geahnt haben, daß ich ihn beobachtete, er begann seine Arbeit noch mehr zu verheimlichen und zu verbergen, wurde noch wortkarger. Aber nach etwa einer Woche mußte er sprechen. Und lange…
Damals kam nämlich die Nachbarin jener Patientin ins Labor, die den Jungen hatte haben wollen. Sie erkannte Stein, der in der Mittagspause im Labor arbeitete, und ging direkt auf ihr Ziel los: »Sie müssen mir die Tabletten geben. Ich zahl’ genausoviel wie Fanci.«
»Was für eine Fanci?« Stein erinnerte sich wirklich nicht mehr. Aber diese Frau war von anderem Schrot und Korn. Einen halben Kopf größer als wir beide, Schultern wie ein Ringkämpfer, hieb sie gleich zu Anfang auf den Tisch: »Spielen Sie keine Komödie. Glauben Sie, ich weiß flicht, wovon ihr Ärzte heutzutage so gut lebt? Also da ist das Geld, und nun her mit den Tabletten. Ich bin ledig und kann mir kein Balg leisten…« Vergeblich redeten wir auf sie ein, erklärten und beschworen, sie legte das Geld auf den Tisch und drohte. »Wenn ich nichts bekomme, geh’ ich zum Direktor und packe aus. Mir ist das gleich, soll Fanci zappeln, sie paßt jetzt eine Weile auf und wird keinen Doktor brauchen. Mehr als auf Bewährung bekommt sie nicht. Während Sie, meine Herren Doktoren…«
»Das ist es ja eben, wir sind keine Doktoren«, erklärte ich ihr. Vergeblich. Damit brachte ich sie noch mehr auf. Ob ich abstreiten wolle? Ob wir die Heiligen spielen wollten? Sie würde uns anzeigen, also sollten wir ihr nichts vorspielen.
So endet die Karriere jedes Abtreibers. Man weist ihm zwar nicht die Abtreibung nach, die er verpfuscht hat, aber er lehnt einen Eingriff ab, der ihm zu riskant erscheint, und die verzweifelte Frau geht ihn anzeigen. Ich sah mich schon vor dem Direktor stehen. Zum Glück wurde nur Stein zu ihm gerufen.
Es war ein großer Skandal im Institut. Die Frau hatte ihr Geheimnis auf dem ganzen Weg von der Apotheke zur Direktion kundgetan, und dabei kam sie an den Pavillons für Innere Medizin, Kinderheilkunde, Infektionen, Haut und Orthopädie vorbei, wo überall die Fenster offenstanden und wo sich die Patienten und die Pflegerinnen langweilten. Bald wußte jeder, daß Doktor Stein Abtreibungen machte.
Gegen ihn liefen also zwei Untersuchungen. Aber Fanci stritt alles ab. Nach vierzehn Tagen war das Gewitter vorüber. In den Kreißsaal kehrte er freilich nicht zurück. Er mußte in der Hautabteilung anfangen, was damals im Institut als schlimmste Degradierung empfunden wurde. Einerseits, weil sich der taube Chef dieser Abteilung mehr in Weinmarken als in Diagnosen auskannte, und andererseits, weil das ständige Bemalen der Kranken mit verschiedenen Farben und das Einreiben mit Salben jeder auch ohne Ausbildung als Pfleger ausführen

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