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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Linie.
Übrigens, ganz so ist es nicht. Von einer Minute zur anderen verwandelt sich die Menge. Jede Bewegung erstirbt, die auf der Stelle still gewordenen Menschen starren gierig auf Bildschirme. Ein Fußballspiel beginnt. Minuten später übertönen wildes Geschrei und ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert selbst die kreischenden Reklamelautsprecher.
In einem solchen Tollhaus kann ich nicht mehr denken, und ich betrete das erstbeste Geschäft. Dort ist es leer und verhältnismäßig still. Sehr bequeme Sessel stehen herum. Die Klimaanlage spendet angenehm kühle Luft.
Ich möchte so gern wenigstens etwas begreifen. Vor nicht allzulanger Zeit glaubte ich noch, es wäre das wichtigste, den Wettbewerb im Verbrauch zu gewinnen. Automation und Überfluß. Wieviel lange Jahre haben wir uns vor diesen beiden Idolen verneigt!
Fressen, fressen und nochmals fressen. Konfliktloser Kapitalismus! Möge jeder soviel fressen, wie er kann, und die Frage »Haben oder nicht haben?« verliert ihren Sinn. Das Fassungsvermögen des Magens macht alle gleich in diesem automatisierten Paradies. Und nun, die Mägen sind übervoll. Wie soll’s weitergehen? Weiter? Wir und die Eierköpfe. Wieder zwei Klassen. Intellektuelle Ungleichheit. Niemals zuvor trat sie so scharf zutage. Für die Eierköpfe sind wir weiter nichts als Schweine am Trog, Objekt eines sozialen Experiments. Uns trennen nicht bloß die Mauern des Forschungszentrums. Ich habe irgendwann einmal einen Roman von Wells gelesen. Dort lenkte ebenfalls eine Elite von Wissenschaftlern die Welt. Doch anders. Niemand vermochte sich vorzustellen, daß die Besitzunterschiede zu derart krasser intellektueller Ungleichheit führen, daß sich alles derart verkompliziert und die moderne Wissenschaft nur noch Genies zugänglich ist. Bisweilen glaube ich, wir werden von Marsmenschen regiert. Auf zehn Millionen Menschen kommt ein Genie. Die Eierköpfe machen sie immer mit Erfolg ausfindig. Als Einjährige kommen die Glücklichen ins Forschungszentrum. Irrtümer sind fast ausgeschlossen, das genetische Horoskop soll, wie man sagt, bombensicher sein. Und was soll ein Mensch tun, der nicht als Genie geboren wird?
Ich stehe auf und schlendere zum Ausgang.
»Sie haben nichts erworben?« gellt es in meinen Ohren. Die Geschäftsautomaten funktionieren fehlerlos.
Ich gehe zu einer Vitrine, stecke meine Bankkarte in den Kasten unter das Fotoelement und wähle aufs Geratewohl eine Krawatte mit einem verzwickten Muster.
»Sie wird Ihnen ausgezeichnet stehen.«
Ich schmeiße die Krawatte weg und gehe über die Treppe hinunter auf die Fahrbahn.
Ein paar Minuten stehe ich unentschlossen vor der langen Autoschlange, dann setze ich mich in einen kleinen Wagen.
»Wohin?« Eine Leuchtschrift taucht vor mir am Steuerpult auf. Ich weiß keine Antwort. Gleichzeitig drücke ich auf alle vorhandenen Knöpfe und Tasten.
Im Pult knackt es, und die Leuchtschrift blinkt wieder auf.
»Ach du«, sage ich, »so was nennt sich nun Automat und kommt nicht einmal mit einer solchen Kleinigkeit zu Rande.«
Ich betätige den erstbesten Knopf, und der Wagen setzt sich in Bewegung. Mir scheint, als führe er durch eine ausgestorbene Stadt. Auf der Fahrbahn nicht ein einziger Wagen. In Donomaga hat es schon seit langem niemand mehr eilig.
Ich drücke nacheinander auf alle Knöpfe. Der Wagen fährt ohne Ziel durch die Straßen.
Plötzlich nimmt seine Geschwindigkeit zu. Um die Ecke braust eine rote Limousine mit dem Symbol des Forschungszentrums. Ich sehe gerade noch den auf einem Kissen liegenden Mann. Eine riesige, kahle Stirn, ein kleines, fliehendes Kinn, Zeichen der Degeneraten.
Noch eine halbe Stunde. Die sinnlose Fahrerei geht mir allmählich auf die Nerven, doch ich bringe nicht den Willen zu einem Entschluß auf.
Ich überlege, daß der Wagen, wenn man ein paar Widerstände aus dem Pult risse, die Richtung verlöre. Und dann… Plötzlich kommt mir die Erleuchtung; ich spiele schon den ganzen Tag Blindekuh mit mir selbst.
Ich wähle eine Nummer auf der Scheibe und beuge mich über das Mikrofon: »Lili!« Ich flüstere, denn ich schäme mich der Worte, die ich sage: »Lili, du lastest auf mir wie ein Fluch. Ich bringe dich um, wenn ich nicht sofort zu dir kommen darf.«
    Vor der Haustür steht die rote Limousine. Ich stelle meinen Wagen daneben ab und fahre zur zweiten Etage hinauf. Lili öffnet mir selbst. Sie sieht erregt aus.
»Guten Tag, Liebster.« Sie küßt mich zerstreut auf den Mund.
»Ich habe eine Überraschung für

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