Die Rekonstruktion des Menschen
dich.«
Ich ahne, was das für eine Überraschung ist.
Die rote Limousine plus Luis ungeheuren Ehrgeiz. Der Vorgaben sind genug, um die Gleichung mit einer Unbekannten zu
lösen.
»Ich bin gespannt!«
Ich bin tatsächlich gespannt. Ich habe noch nie einen Eierkopf
aus der Nähe gesehen.
Er sitzt im Sessel am Fenster. Ich erkenne ihn auf Anhieb.
Neben ihm sitzt Toni.
»Macht euch bekannt. Mein ehemaliger Mann«, sagt Lili. Das bin ich.
Ehemaliger Mann, ehemaliger Schriftsteller, was noch? »Er ist Schriftsteller«, setzt Lili hinzu, »und ein begabter
obendrein.«
Was denn sonst? Bei ihr muß alles von bester Qualität sein,
selbst der ehemalige Mann.
Toni winkt freundlich mit der Hand. Er ist schon ziemlich
voll. Wo er wohl den Schnaps aufgetrieben hat?
Ich gehe auf den Eierkopf zu, stolpere aber über Tonis ausgestreckte Beine. Die Feierlichkeit des Zeremoniells ist hin. Der
erste Mann stolpert über den zweiten, ein Gaudi.
»Loy«, sagt der Eierkopf. Er hält es nicht einmal für nötig,
sich aus dem Sessel zu erheben.
Ich drücke seine feuchte, fleischige Hand und stelle mich
ebenfalls vor.
»Möchtest du einen Tee?« fragt Lili.
»Lieber was Kräftigeres.«
Toni legt den Finger auf die Lippen.
»Vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren«, sagt Loy. »Alle Gesetze haben statistischen Charakter, auch das Alkoholverbot. Gewisse Abweichungen sind immer zulässig.« Lili holt die Flasche aus dem Schrank und mixt einen Cocktail.
Das erste Glas reicht sie Loy, doch der schüttelt ablehnend
den Kopf. Toni schnauft zufrieden. Wer nicht will, der hat
schon, um so mehr bleibt für uns.
»Haben Sie Svens letzten Roman gelesen?« fragt Lili den
Eierkopf. »Er stand einmal hoch im Kurs.«
Loy guckt mich mit einem schweren, schläfrigen Blick an. Es
sieht aus, als hätte er mitgekriegt, daß es um mich geht. »Ich lese keine Belletristik«, sagte er, »doch wenn man einen
Schriftsteller kennenlernt, möchte man unwillkürlich lesen,
was er geschrieben hat.«
Lili atmet hörbar auf und nimmt ein Buch vom Regal. Ob sie
es wohl selbst gelesen hat?
Loy hat kurze Hände, Spinnenpfoten. Als er nach dem Buch
greift, fürchte ich, er würde es zum Munde führen und ihm alle
Säfte aussaugen.
So ist es auch wirklich. Mit schnellen, schroffen Bewegungen
blättert er die Seiten um, für den Bruchteil einer Sekunde
verweilt sein Blick, dann blättert er weiter.
»Ich glaube kaum, daß es Sie interessiert«, sage ich und nehme ihm das Buch fort. »Eine Liebesgeschichte aus unserer
Zeit.«
»Sie irren«, unterbricht er mich. »Das Problem der sexuellen
Erziehung der Jugend steht heutzutage an erster Stelle. Wir
haben das S YSTEM für einhundert Jahre im voraus programmiert. Jährlicher Bevölkerungszuwachs mindestens fünf Prozent. Korrekturen sind jetzt ausgeschlossen. Die Tatsache, daß
die Menschen keine Kinder wollen, kann zu katastrophalen
Folgen führen.«
Erst in diesem Moment wird mir klar, was mich seit dem frü
hen Morgen quält. Ich muß Lili eins auswischen. Sie in die
Achillesferse, die empfindlichste Stelle, treffen. Nein, solch
eine Möglichkeit darf nicht vergeben werden!
»Wirklich, Toni, warum schafft ihr euch kein Kind an, du und
Lili?«
Lili beißt sich auf die Lippen. Sie ist gespannt wie eine
Sprungfeder.
»Ich bin doch impotent«, meint Toni gutmütig. »Wissen Sie
das etwa nicht?«
Ein Schuß ins Schwarze. Loy wendet sich erstaunt an Lili. »Es ist ausgesprochen modern, einen Impotenten zu heiraten«, sagt sie leicht dahin. »Das erspart einem eine Menge
scheußlicher Pflichten!«
Lili mochte die Rache schon immer schnell und mitleidlos. Loy versteht nichts mehr.
»Aber wollen Sie etwa kein Kind?«
»Ich habe, keine Lust, einen Versager zur Welt zu bringen.
Davon gibt es bei Gott, mehr als genug.«
»Aber es gibt doch immer eine Chance.« Loy stellt sich stur. »Eine solche Chance reicht mir nicht. Ich brauche wenigstens
fünfzig Prozent Gewißheit, mein Lieber. Toni hat mir mal
erzählt, im Altertum wären die Götter vom Olymp herabgestiegen und hätten sich irdische Mädchen genommen. So wurden
die Heroen gezeugt. Stimmt’s, Toni?«
Toni nickt. Seine Augen hängen gebannt an der Karaffe. Dort
ist noch ein Rest an Trinkbarem. Ich fülle sein Glas und warte,
was weiter wird.
Die Anspielung ist so durchsichtig, daß selbst Loy sie versteht. Er schwankt.
»Das empfiehlt sich nicht allzusehr. Genialität ist, wie jede
andere Abweichung von der Norm, mit einem Fehler im genetischen Material verbunden. Dabei entstehen
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